Beim Warten sind alle gleich

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Wie wunderbar, beim Augenarzt zu sitzen und zu warten. Im Warteraum zu sitzen, gemeinsam mit all den anderen, und zu warten, bis dein Name gerufen wird. Alle warten gleich, und alle werden beim Namen gerufen. Wer gerufen wird, steht auf und folgt dem Ruf.

Wie wunderbar, ins Museum zu gehen und vor einem Bild zu stehen. Zu stehen und zu warten, bis das Bild zu dir kommt. Es wird dir gegenwärtig, spricht dich an. Und dann zu gehen.

Wie wunderbar, still zu sein und nur zu warten. Zu warten und zu ruhen. Solange zu ruhen, bis in der nebligen Landschaft der Wünsche und Vorstellungen sich die zarte Linie eines fernen Horizonts zu erkennen gibt. Und dann zu gehen in dieser Weite.

Aber wir warten nicht.

Die Umstände zwingen zur Rastlosigkeit. Immer sind wir hinter etwas her, das erst noch zu erreichen ist. Zu warten ist ein Luxus geworden. Das völlig Überflüssige in einer Gesellschaft, die jedem die Verheißung schenkt, sich über alle anderen zu erheben. Denn beim Warten sind alle gleich. Beim Warten ist jeder auf andere angewiesen.

Was, wenn dich niemand ruft? Wenn niemand deinen Namen kennt? Niemand dich beachtet? Beim Warten gehe ich dieses Risiko ein. Warten ist ein Luxus. Es kostet meine Zeit.

Warteräume sind die Museen, die Kirchen, Kinos und Konzertsäle. Warteräume sind die Straßenbahnen, die U-Bahnen, die Autobusse. Warteräume sind Kaffeehäuser, Geschäfte und Gasthäuser. Hier kann ich entdecken, dass zusammen mit mir auch andere da sind. Andere, die warten gemeinsam mit mir. Hier kann ich entdecken, dass andere zu mir finden, mich ansprechen. Doch der Aufenthalt in Warteräumen kostet Zeit. Warten ist ein großer Luxus. Wer kann sich das schon leisten?

* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien

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