Das Individuelle Allgemeine
Zum 250. Geburtstag des Philosophen und Theologen Friedrich Schleiermacher: Platon-Übersetzer, Hermeneutiker und Begründer eines neuen Religionsbegriffs.
Zum 250. Geburtstag des Philosophen und Theologen Friedrich Schleiermacher: Platon-Übersetzer, Hermeneutiker und Begründer eines neuen Religionsbegriffs.
Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte." Diese provokative These ist charakteristisch für Friedrich Schleiermacher. Er wirkte als Philosoph, evangelischer Theologe, Pädagoge und Prediger. Seine facettenreiche Theorie entfaltete er in Vorlesungen, Abhandlungen und Briefen, die teilweise nach seinem Tod publiziert wurden. Schleiermacher verstand sein theologisches und philosophisches Werk als ein Projekt, das sich ständig im Fluss befand. Ein Systemdenken, wie es Hegel propagierte, war ihm völlig fremd. "Schleiermacher war jemand, der einerseits sehr rational dachte, der das Aufklärungsdenken sehr stark machte", so Andreas Arndt, Autor der umfangreichen Studie "Friedrich Schleiermacher als Philosoph, "auf der anderen Seite war er geneigt, immer ein Gegengewicht zu setzen. Gefühl und Emotionalität spielen eine große Rolle; er versuchte immer eine Balance zu halten".
Revolutionäre Sympathien
Geboren wurde Friedrich Schleiermacher am 21. November 1768 als Sohn einer Pfarrersfamilie in Breslau. Sein streng gläubiger Vater war Mitglied der Herrenhuter Brüdergemeinde, einer pietistischen Gemeinschaft, die von einem starken Christusglauben geprägt wurde. Schleiermacher absolvierte das Gymnasium der Gemeinde und sollte dann das Herrenhuter-Seminar absolvieren, wo die Ausbildung des Führungsnachwuchses erfolgte. Bald stellten sich bei dem Jugendlichen Zweifel ein; die ausschließliche Konzentration auf Jesus Christus schien ihm mit einem vernünftigen Denken kaum vereinbar. Dieser Zweifel verstärkte sich und führte dazu, dass er die Gemeinde verließ, ein Theologiestudium in Halle begann und sich intensiv mit den Schriften Immanuel Kants befasste. Danach nahm er eine Stelle als Hauslehrer bei dem Grafen von Dohna an, mit dem er wegen politischer Differenzen in Streit geriet. Dies geschah vermutlich deswegen, weil Schleiermacher ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Französischen Revolution hatte. Er sah darin keinen Akt des Frevels gegen die Obrigkeit, sondern eine notwendige Korrektur von Fehlentwicklungen der Gesellschaft in Frankreich. Der Streit führte dazu, dass er die Hauslehrertätigkeit aufgab.
Nach dem Abschluss des Theologiestudiums erhielt Schleiermacher eine Stelle als Prediger an der Charité -dem ältesten Krankenhaus in Berlin -, wo er für die geistliche Betreuung der Insassen verantwortlich war. Darunter befanden sich nicht nur Kranke; sondern auch Invalide und Mittellose, was Schleiermacher be wog, Vorschläge für eine Armenfürsorge auszuarbeiten. Während dieser Tätigkeit als Prediger eröffnete sich für Friedrich Schleiermacher eine völlig neue Welt: Der Sohn des Grafen von Dohna führte ihn in den Salon des Arztes und Schriftstellers Markus Herz und seiner Frau Henriette ein. Mit ihr verband Schleiermacher bald eine enge Freundschaft, er bezeichnete sie als eine ihm verwandte Seele. "Es ist eine recht vertraute und herzliche Freundschaft, wobei von Mann und Frau aber gar nicht die Rede ist", notierte er. Im Salon des Ehepaars Herz verkehrten Wilhelm und Alexander von Humboldt, Friedrich und August Schlegel oder Clemens Brentano. Schleiermacher fühlte sich in diesem Umfeld der Vertreter der Romantik sofort unter Gleichgesinnten. Eine besondere Freundschaft verband ihn mit Friedrich Schlegel -dem führenden Intellektuellen der Frühromantik, mit dem er sogar eine Wohnung teilte, in der sie wie ein Ehepaar lebten, wie Schleiermacher ironisch bemerkte. Die Diskussionen mit den Frühromantikern waren für Schleiermacher äußerst anregend. Er begann eigene Texte zu publizieren und die Werke Platons zu übersetzen.1804 erhielt Schleiermacher an der Universität in Halle eine Stelle als außerordentlicher Professor der Theologie und Philosophie. Er kehrte einige Jahre später nach Berlin zurück, wo er als einflussreicher Prediger an der Dreifaltigkeitskirche wirkte. Gleichzeitig setzte er sich für die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität ein, an der er bis zu seinem Lebensende am 12. Februar 1834 als Professor der Theologie lehrte.
Vater der modernen Hermeneutik
Einen wichtigen Beitrag leistete Schleiermacher für die philosophische Disziplin der Hermeneutik, in der das Phänomen des Verstehens thematisiert wurde. Schleiermacher definierte die Hermeneutik als "die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen". Er gilt als der Begründer der modernen Hermeneutik. Im Gegensatz zur traditionellen Hermeneutik, die davon ausging, dass eine hermeneutische Methode erst dann berechtigt sei, wenn ein Text sich dem Verstehen entziehe, war Schleiermacher überzeugt, dass jede Rede oder Schrift im Grunde genommen einer Interpretation bedürfe.
In seinen Schriften zur Hermeneutik nahm Schleiermacher eine Differenzierung zwischen einer technischen Interpretation und einer grammatischen Interpretation vor. Die technische Interpretation nannte er auch psychologische Interpretation. Sie versuchte, den Autor zu verstehen und seine Intentionen zu verdeutlichen. Die grammatische Auslegung war darum bemüht, sich auf den gesamten Diskurs der Zeit und die kulturellen Bedingungen dieses Sprechens zu beziehen. Schleiermacher ging davon aus, dass es keine allgemein verbindliche Methode gebe, wie Dichtungen zu interpretieren seien. Er verzichtete auf einen in sich geschlossenen, philosophisch oder kulturgeschichtlich motivierten Deutungsrahmen und betonte die Unabschließbarkeit philologischer Interpretationen und die Bedeutung der "Divination", die er als Einfühlung, als Ahnung bezeichnete.
Hohen Stellenwert in Schleiermachers philosophischem Werk hat das Verhältnis von Individualität und Allgemeinheit. Sein Ausgangspunkt war die Individualität, das konkrete Leben des Einzelnen, das er gegen die Abstraktionen der idealistischen Philosophie -speziell gegen Johann Gottlieb Fichte -stellte. In seiner "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" entfaltete Fichte das Konzept des "absoluten Ich", das nicht als das Ich eines Individuums verstanden werden darf, sondern diesem vorausgeht. Fichte strebte eine Philosophie aus einem Guss an, die den gesamten Inhalt des Bewusstseins aus dem ersten Prinzip ableitet. Diese Fetischisierung eines ersten Prinzips lehnte Schleiermacher ab. Er "wolle sich die wirkliche Welt wahrlich nicht nehmen lassen", schrieb er. Obwohl Schleiermacher den Stellenwert des Individuums betonte, suchte er die Vermittlung mit dem Allgemeinen. Er verherrlichte keineswegs den Einzelnen als absolute Größe, sondern verstand ihn als jemand, der die gesamte Menschheit repräsentieren und danach handeln sollte. Das Verhältnis von Individualität und Allgemeinem ist auch für das gesellschaftliche Leben von großer Bedeutung; hier spielt der Begriff Vermittlung eine wesentliche Rolle. In seiner Ethik versuchte Schleiermacher, zwischen den beiden Polen - zwischen der Individualität und den Regeln der Gesellschaft -zu vermitteln.
Kosmischer Religionsbegriff
Schleiermachers philosophische Überlegungen zum Verhältnis von Individualität und Allgemeinem finden sich auch in seinen Reflexionen über die Religion. 1799 veröffentlichte Schleiermacher sein Hauptwerk "Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Er wandte sich dabei an die Gebildeten, die -in der Tradition der Aufklärung -häufig die Religion als antiquierte Angelegenheit betrachteten oder gar verachteten. Dagegen sprach sich Schleiermacher für eine neue Sichtweise der Religion aus, die "Sinn und Geschmack für das Unendliche" wecken sollte. Er wollte die Gebildeten "in die innersten Tiefen und auf die Zinnen des Tempels führen" und entfaltete einen Religionsbegriff, der den gesamten Kosmos und jeden Menschen miteinbezog. Wer ein Gefühl für den Kosmos und das Lebendige habe -so verkündete Schleiermacher euphorisch -der sei an der Ursprünglichkeit des Göttlichen beteiligt. Jeder Mensch könne das fühlen, jeder Mensch könne sich darauf einlassen. Jeder habe dieses Potenzial der kosmischen Empfänglichkeit in sich.
Für Schleiermacher erfolgt die Teilhabe am Göttlichen nicht erst nach dem Tod des Individuums, sie kann als "Kairos", als glückliche Fügung, hier und jetzt geschehen. Ähnlich wie die von verschiedenen Mystikern beschriebenen Erleuchtungserlebnisse erzeugt das Eintauchen in das Göttliche ein ozeanisches Gefühl; es ist "das geräuschlose Verschwinden unseres ganzen Daseins im Unendlichen". Für Schleiermacher hat die religiöse Erfahrung eine subjektive, innere Erlebnisqualität, die keine Vermittlung durch kirchliche Institutionen benötigt; "die religiösen Gefühle sollten wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten", schrieb Schleiermacher. "Wer nicht hier und da mit der lebendigsten Überzeugung fühlt, dass ein göttlicher Geist ihn treibt", heißt es in den "Reden über die Religion";"wer sich nicht wenigstens seiner Gefühle als unmittelbare Einwirkungen des Universums bewusst ist, der hat keine Religion".
Der Alleskönner
Inspiriert durch die Auseinandersetzung mit der Romantik, begann Schleiermacher eigene Texte zu produzieren und die Werke Platons zu übersetzen. Er lehrte zeitlebens an der Universität Theologie und wirkte auch als Prediger.