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Kaum ein anderer hat so viel zum Verständnis für „primitive“ Kulturen beigetragen. Zum 100. Geburtstag des Ethnologen und Anthropologen Claude Lévi-Strauss.

„Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende.“ So beginnt das Buch „Traurige Tropen“, mit dem Lévi-Strauss weit über die ethnologische Fachwissenschaft bekannt wurde. In diesem Buch, das einen melancholischen Grundton aufweist, beschreibt er seine Erfahrungen, die er mit sogenannten schriftlosen Völkern in Brasilien gemacht hat. Darin drückt er seine Trauer aus, dass die westliche Zivilisation dafür verantwortlich ist, dass 20.000 Jahre Geschichte verspielt worden sind. Er ist überzeugt, dass die bestehenden schriftlosen, „primitiven“ Völker alle zum Untergang verurteilt sind.

Kaum ein anderer Geisteswissenschafter dieses Jahrhunderts hat so viel dazu beigetragen, Verständnis für das sogenannte „primitive“ Denken – für „das wilde Denken“, wie er es nennt – zu entwickeln. Ähnlich wie Jean-Jacques Rousseau empfindet Lévi-Strauss größte Hochachtung vor den „primitiven“, schriftlosen Kulturen – die er keineswegs als Vorformen logisch-rationaler Kulturen ansieht, sondern als kunstvoll gewobene Gebilde, die eine gesamtheitliche Sicht des Kosmos und des Alltags anbieten.

Erstaunlicherweise hatte „der bedeutendste Ethnologe des 20. Jahrhunderts“, wie er bezeichnet wurde, gar kein ethnologisches Fachstudium absolviert. Lévi-Strauss wurde am 28. November 1908 in Brüssel als Sohn einer französisch-jüdischen Familie geboren. Nach der Übersiedlung der Eltern nach Paris studierte er Rechtswissenschaften und Philosophie, las die Schriften von Karl Marx. Nach seiner Promotion 1932 unterrichtete Lévi-Strauss als Gymnasiallehrer. Aber bald begannen ihn diese Tätigkeiten zu langweilen und er fühlte sich von der damals noch Exotik verheißenden Ethnologie angezogen, die der Frage nach dem „Anderen“, der Frage nach anderen Kulturen nachging.

1935 nahm Lévi-Strauss einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität São Paulo an. Er nützte diese Zeit für mehrere Reisen ins Innere Brasiliens, wo er ethnographische Studien betrieb; die längste, beschwerlichste Reise dauerte rund ein Jahr.

Inzestverbot und Frauentausch

Nach einem kurzen Zwischenspiel in Frankreich musste Lévi-Strauss nach der Besetzung des Landes durch die Nationalsozialisten Frankreich wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen. An Bord des Schiffes, das ihn nach New York brachte, befand sich auch der Schriftsteller André Breton. In New York erhielt er eine Stelle an der New School for Social Research. Dort kam er mit den Surrealisten in Kontakt; er befreundete sich mit Breton und Max Ernst. Die weitaus folgenreichste Auswirkung hatte jedoch die Bekanntschaft mit dem Sprachwissenschaftler Roman Jakobson, die eine vierzig Jahre lang andauernde „Freundschaft ohne Brüche“ begründete. Jakobson vermittelte Lévi-Strauss die Ergebnisse der damals neuen strukturalen Linguistik, die sich mit der Erforschung der phonologischen Bestandteile der Sprache beschäftigte.

Lévi-Strauss war der erste, der diesen Ansatz auf soziokulturelle Phänomene ausweitete. Von zentraler Bedeutung im Œuvre von Lévi-Strauss ist der Begriff der sozialen Struktur, den er so definiert: „Der Begriff der sozialen Struktur bezieht sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle.“

Die Umsetzung dieser Programmatik erfolgte in dem 1949 publizierten Werk „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“. In diesem Buch entfaltete Lévi-Strauss erstmals sein theoretisches Konzept: Er verglich eine Reihe von Heiratsregeln in Stammesgesellschaften, die sich als Erscheinungsformen einer grundlegenden Tatsache entpuppten: Alle Kultur beruhe – so lautet die zentrale These – auf Inzestverbot und auf Frauentausch, also dem Tausch der Braut gegen materielle Güter. Die Wechselwirkung von Heiratsregeln und Tauschformen untersuchte Lévi-Strauss mit Hilfe von Diagrammen und mathematischen Schemata; diese Vorgangsweise trug ihm den Ruf ein, den Strukturalismus, zumindest in Frankreich, begründet zu haben.

Nach einem Zwischenspiel als französischer Kulturattaché in den Vereinigten Staaten erhielt Lévi-Strauss 1950 einen Lehrstuhl für Vergleichende Religionswissenschaften der schriftlosen Völker an der École Pratique des Hautes Études in Paris und 1959 einen Lehrstuhl für Anthropologie am renommierten Collège de France. In diesen Jahren veröffentlichte er weitere Hauptwerke, wie „Das Ende des Totemismus“ und „Das wilde Denken“. In diesen Büchern lässt sich Lévi-Strauss auf jene geheimnisvolle Welt des Mythischen ein, die dem westlich-rationalen Denken völlig konträr ist. Das heißt jedoch nicht, dass das „wilde Denken“ (im Sinne Rousseaus) nur von Emotionen bestimmt wird. Denken ist Denken, konstatiert Lévi-Strauss; es geht nur um Modifikationen, die allerdings höchst unterschiedlich sind, gleichgültig, ob es sich um sogenannte „primitive“ oder höchst entwickelte Gesellschaften handelt: In der mythischen Weltsicht sieht Lévi-Strauss den Versuch, den Gesamtzusammenhang des Universums – vom Ursprung der Götter über die Menschen bis hin zu Pflanzen und Steinen – in einer ars combinatoria zu präsentieren. Der Mythos kennt keine diskursive Logik des Erzählens; es existiert kein Urtext, auf den man sich beziehen kann. In den indianischen Kulturen wird der Mythos als Geschichte von Ereignissen bestimmt, die in einer Zeit stattfinden, in der die Menschen und die Tiere sich noch nicht voneinander unterschieden. Der Mensch verfolgte noch nicht das cartesianische Projekt, „Herr und Meister der Natur“ zu sein.

„Die Mythen durchtränkten mich“

Im mythischen Denken werden natürliche und soziale Beziehungen nicht vom Standpunkt eines herrschenden Prinzips interpretiert, sondern als ständiger Verweisungszusammenhang. Ein konkretes soziales Problem kann, ohne die Stellung der Himmelskörper, ohne die Konstellation der Jahreszeiten zu beachten, nicht gelöst werden.

Wie nun die „kombinatorische Maschine“ der mythischen Welt beschaffen ist, zeigte Lévi-Strauss in seiner vierbändigen, rund zweitausend Seiten umfassenden Monumentalstudie „Mythologica“, an der er rund zwanzig Jahre gearbeitet hat.

In diesem Werk analysierte er 813 Mythen der süd- und nordamerikanischen Indianer. Die Lektüre der Mythen bereitete Lévi-Strauss viel Vergnügen. „Die Mythen durchtränkten mich geradezu“, notierte er, „ich lebte mit all den Mythen wie in einem Feenmärchen.“

Sich selbst sieht Lévi-Strauss als Don Quichote, „mit einem quälenden Verlangen, hinter der Gegenwart der Vergangenheit wieder zu begegnen“; einer Vergangenheit, die dem mythischen Weltbild des „wilden Denkens“ entspricht und das elegisch in der Schlusspassage der „Traurigen Tropen“ beschworen wird: Die Poesie des Augenblicks entsteht „mit dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen – den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze“.

Literaturtipps:

Claude Lévi-Strauss: Die traurigen Tropen

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 541 S., kart., E 39,10

Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken

suhrkamp taschenbuch wissenschaft Band 14, Frankfurt am Main 1973, 352 S., kart., E 13,90

Claude Lévi-Strauss: Mythologica I-IV

suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 167–170, Frankfurt/M. 2008, 2545 S., kart., E 70

Michael Kauppert/Dorett Funcke (Hg).: Claude Lévi-Strauss

suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 1892, Frankfurt/M. 2008, 446 S., kart., E 20

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