DEM GOLEM AUF DER SPUR

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IN IHREM DRITTEN BUCH THEMATISIERT JULYA RABINOWICH WESTEUROPAS WUNDE DER ILLEGALEN PROSTITUTION.

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IN IHREM DRITTEN BUCH THEMATISIERT JULYA RABINOWICH WESTEUROPAS WUNDE DER ILLEGALEN PROSTITUTION.

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Der erste Roman der in St. Petersburg geborenen Autorin, Malerin und Dolmetscherin Julya Rabinowich ist 2008 erschienen. Innerhalb kurzer Zeit gelingt es ihr, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Fuß zu fassen und kontinuierlich auf sich aufmerksam zu machen. Für ihren Erstling "Spaltkopf", einen vom eigenen Schicksal grundierten Roman, in dem sie die Emigration einer russischen Familie und ihr Zerrissensein "zwischen den Kulturen" beschreibt, hat sie den Rauriser Literaturpreis bekommen.

Nach ihrer thematisch völlig anders angesiedelten "Herznovelle" präsentiert sie nun ein neues Buch, das indirekt wieder mit ihrer ehemaligen Heimat zu tun hat und dessen Titel bereits unweigerlich den Fokus des Textes ins Zentrum rückt, nämlich den Weg einer Russin, die wie viele andere ihrer Landsfrauen "nur einen Löffel vom Honig, ein Gläschen nur von der Milch" will, "die in Europa fließt". Das Korn "Arbeit" jenseits der Grenze in Westeuropa wird für sie zur Hölle, zur Selbstaufgabe und zur Selbstzerstörung.

Wort- und Wertlosigkeit

Einen Ausschnitt aus der Erdfresserin hat Rabinowich bereits 2011 beim "Wettlesen in Klagenfurt" vorgestellt. Die Jury hat eher nüchtern mit verhaltenem Echo reagiert: Zu schwierig sei der Text, mythologisch zu stark instrumentiert, "überorchestriert", schließlich habe "die Autorin ihrem Kind zu viel mitgegeben".

Rabinowich hat sich wahrlich kein leichtes Thema vorgenommen, auch weil sie hier Geschichten von Frauen bündelt, mit denen sie selbst bei ihrer Arbeit als Dolmetscherin konfrontiert worden ist, wie sie in ihrem Interview für das BOOKLET bereits im Frühjahr 2011 erzählte. Es werde zu wenig begriffen, was da alles passiere, das Thema des sogenannten Asylmissbrauchs decke alles zu "an griechischen Tragödien, die sich tagtäglich abspielen".

Der Roman handelt von Diana, einer selbstbewussten Frau mit vorerst klaren Lebenszielen, deren Vater plötzlich nicht mehr nach Hause kommt. Zurück bleiben verschlüsselte Botschaften in Büchern, seine Pfeife und eine verbitterte Mutter, die im Warten auf seine Heimkehr tagtäglich die Türschwelle säubert. Schließlich muss Diana den Broterwerb für die Familie übernehmen. Der Traum vom Theater ist bald ausgeträumt, existentielle Nöte treiben sie flugs in die illegale Prostitution. Die Familie leidet, kann aber ohne ihr Geld nicht überleben. Für Augenblicke wird Diana, die einen behinderten Sohn hat, zwischen "Wort- und Wertlosigkeit" plötzlich aus der Woge des Abgrunds gespült, als ein schwer kranker Polizist sie aus Mitleid bei sich aufnimmt. Und dann ist da noch die Spur des magischen Golems, dessen Erschaffung sie imaginiert.

Rabinowich hat ihren Roman kunstvoll aufgebaut, unRabinowich hat ihren Roman kunstvoll aufgebaut, unterfüttert mit einer komplexen Motivsignatur. Das erste der beiden Kapitel - dicht ineinander gewebte Kindheitsund Lebenserinnerungen - strukturieren die Fragen des Therapeuten. Dabei leuchtet Rabinowich schonungslos in die verhärtete und durchaus auch abgründige Gefühlswelt ihrer Protagonistin, die zu denen gehört, "die aufstehen und weitergehen". Ihre psychologische Annäherung an das Thema reichert sie erzähltechnisch mit Überblendungen und abrupten Schnitten an. Und trotz der trostlosen Thematik ist das Buch mitunter von einer kraftvollen poetischen Sprache getragen.

In diesem Roman steckt freilich auch Sprengkraft, weil er politische Fragen anstößt. Er irritiert und beunruhigt ob seiner subtilen Brutalität, während die düsteren Golem-Bilder fast Ratlosigkeit erzeugen. Nur mehr Suche nach Heimat, keine Wärme: "Ich bin ein faltiger Hautsack, mit Sehnsucht aufgeblasen."

Die Erdfresserin

Roman von Julya Rabinowich

Deuticke 2012

235 S., geb., € 18,40

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