Die Frau war der Kirche nie geheuer...

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Über den Grenzbereich zwischen Heiligkeit und Hexerei.

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Über den Grenzbereich zwischen Heiligkeit und Hexerei.

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Als Franz Vranitzky allen, die Visionen haben, einen Arzt empfahl, wurde er mit dem Spott der Intellektuellen bedacht. Daß er auf eine lange Tradition zurückgriff, erhellt aus dem religionswissenschaftlichen Buch "Heilige oder Hexen" von Peter Dinzelbacher, der einen deutschen Sendbrief aus dem Jahr 1450 zitiert, der Ähnliches für den Umgang mit charismatischen Frauen empfiehlt: "Wenn sie Ekstasen und Visionen haben, soll man sie nicht hängen, aber auch nicht ehren". Vielmehr sollten sie besser essen und trinken und mehr schlafen.

Der Klerus war grundsätzlich der Meinung, daß Gott, wenn er sich den Menschen offenbaren wollte, genug Priester und Mönche finden würde, zu denen er sprechen könnte. Daher waren Frauen, die von Offenbarungen berichteten, suspekt. Auch wenn sie, wie Brigitta von Schweden, verheiratet und adelig waren, war die Beschimpfung als Hexe und Lügnerin die Folge - zu Zeiten Brigittas, Anfang des 14. Jahrhunderts, gab es noch kaum Hexenverfolgungen und keine Inquisition. Der Streit um ihre "Heiligkeit" endete mit der Anerkennung durch die Kirche. Während manches Stadtoberhaupt schon vor über 500 Jahren den Tourismuswert einer heilenden und predigenden Frau wie Colomba von Rieti entdeckte und sie beschützen ließ, waren Priester und Bischöfe nur schwer zur Akzeptanz zu bewegen. Die Frau war der Kirche nie ganz geheuer.

Mit zunehmender Hexenverfolgung wurden immer öfter auch die Beichtväter mit verurteilt, ihre Beichtkinder verhext zu haben - oder in sexueller Abhängigkeit von ihnen zu leben. Mit Beginn der Frühneuzeit steigerten sich Hexenfurcht und Verfolgung. Peter Dinzelbacher stellt einen Zusammenhang mit dem Zölibat her: Erst der nach dem Konzil von Trient durchgehend erzwungene Zölibat dürfte "die Obsession mit sexuellen Vorstellungen begünstigt haben, wie sie im Vorwurf des Geschlechtsverkehrs mit dem Teufel auftritt". Doch auch die Proterstanten jagten eifrig nach zauberkundigen Frauen.

Ein anspruchsolles, empfehlenswertes Buch, das einen tiefen Einblick in die Wurzeln christlicher Rituale, aber auch weltlicher Vorurteile gibt, getragen von tiefem Verständnis für die den Menschen bestimmende Sehnsucht, sich im Spannungsfeld zwischen Glauben und Erkenntnis einen Lebensweg zu bahnen.

Heilige oder Hexen Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit Von Peter Dinzelbacher, Verlag Artemis & Winkler, Zürich 1996, 352 Seiten, 15 Abb., geb., öS 609,-

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