Die nostalgische Utopie

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… oder: Wie kann man einige reaktionäre Thesen für die Revolution zurückgewinnen? Der Dichter und Filmemacher Pier Paolo Pasolini wäre heuer 90 Jahre alt geworden.

Geboren 1922 in Bologna. "Mein Vater stammt aus einer alten Adelsfamilie aus der Romagna, meine Mutter hingegen kommt aus einer Bauernfamilie aus dem Friaul, die sich allmählich bis in den Kleinbürgerstand hochgearbeitet hat“, so Pier Paolo Pasolini in einem Interview. Das Walten und Wechseln zwischen den Welten und Klassen scheint ihm in die Wiege gelegt worden zu sein. Früh ergeben sich Konflikte mit dem Vater, einem Infanterieoffizier, der das Familienvermögen durchgebracht hat. Seiner Mutter bleibt er bis zum Schluss eng verbunden: "Sie hatte eine Weltanschauung, die sicherlich idealistisch und idealisierend zu nennen ist. Sie glaubte wahrhaftig an das Heldenhafte im Menschen, an Nächstenliebe, Mitleid, Großzügigkeit. All das habe ich auf beinahe krankhafte Weise in mich aufgesogen.“

Mit 17 Jahren beginnt Pasolini ein Studium in Bologna, schreibt erste Dialektgedichte. 1943 entzieht er sich dem Militärdienst für das faschistische Regime durch Flucht. Im friulischen Ort Casarsa beginnt er seine Laufbahn als Lehrer am Gymnasium. Sein jüngerer Bruder Guido stirbt 1945 bei internen Auseinandersetzungen zwischen den kommunistischen Garibaldi-Brigaden und den friulischen Partisanen-Brigaden, denen er angehörte. Trotz dieser persönlichen Hypothek tritt Pasolini nach Kriegsende in den PCI, die Kommunistische Partei Italiens, ein. Das Verhältnis ist von Anfang an schwierig: Viele Parteigenossen argwöhnen bei Pasolini ein Desinteresse für den sozialistischen Realismus, eine Art Weltläufigkeit und eine übertriebene Offenheit gegenüber der bürgerlichen Kultur. Pasolini setzt sich schon sehr früh zwischen die Stühle.

Obszönität, Freispruch, Lobeshymnen

1949 wird er wegen Unzucht angeklagt. Er verteidigt sich ungeschickt, indem er die Fakten als "intellektuelle Verirrung“ und "Grenzerfahrung“ zu rechtfertigen sucht. Er wird daraufhin von der kommunistischen Partei wegen Homosexualität ausgeschlossen und verliert seine Anstellung als Lehrer. Zusammen mit seiner Mutter zieht er nach Rom. Dort beginnt er, unter großen finanziellen Schwierigkeiten, sein literarisches und journalistisches Schaffen, wobei er sich vom Milieu der Vorstädte, der Borgate, inspirieren lässt. Sein Romandebut "Ragazzi di vita“ (1955) erntet großen Erfolg bei Kritikern und Lesepublikum. Er verleiht damit den sozialen Traditionen und Wertvorstellungen der Jugendlichen in den römischen Vorstädten Geschichte und Stimme. Es beginnt eine Art Ritual der Pasolini-Veröffentlichungen, das sich durch sein ganzes Wirken zieht: Anzeigen wegen Obszönität, Beschlagnahme, Freispruch, Lobeshymnen.

Ab 1957 arbeitet er für die Cinecittà als Drehbuchautor, unter anderem für Fellini ("Le Notti di Cabria“ - "Die Nächte der Cabria“). 1961 realisiert er seinen ersten Film als Regisseur: "Accatone“, eine betörende wie verstörende Vorstadtsaga. Es folgen unter anderem die Filme "Il Vangelo secondo Matteo“ ("Das Evangelium nach Matthäus“), 1964; "Edipo Re“ ("König Ödipus“), 1967; "Teorema“, 1968; "Medea“, 1969/70; zwischen 1970 und 1974: "Il Decameròn“, "I raconti di Canterbury“ ("Canterbury tales“) und "Il fiore di mille e una notte“ ("Die Blüten aus 1001 Nacht“).

Mit wachsendem Erfolg als Autor und Filmemacher wurde Pasolini zur beliebten Zielscheibe der Zeitungsschreiber. Trotz dieses Erfolges hat er aber weder seine Lebensweise, noch seine Freunde oder gar seine Ansichten geändert: "Der Erfolg ist das andere Gesicht der Verfolgung … sowie du ihn erreicht hast, wird dir klar, dass Erfolg etwas Hässliches für einen Menschen ist. Die Hoffnung ist völlig aus meinem Wortschatz gelöscht. Ich kämpfe weiter für partielle Wahrheiten, Stunde für Stunde, …“ (La Stampa, Juli 1971).

Sein im Juni 1968 im L’Espresso veröffentlichtes Gedicht "Il PCI ai giovani!!“ ("Die KPI an die Jugend!!“), worin er gegen den "umgekehrten Rassenhass“ bei den Zusammenstößen im "studentischen Mai“ von Studenten und Polizisten in Valle Giulia Stellung bezieht, führte zu einer nachhaltigen Entfremdung mit der 68er Generation. "Niemand kann besser als Du einen Dialog führen, gerade weil die Leute von allen Seiten mit Dir hadern“, schreibt Davide Lajolo, Redakteur der L’Unità, in einem Brief. Er sehnt eine gerechte Revolution der Freiheit von den Klassen herbei, gleichzeitig trauert er um die verlorenen Tugenden der archaischen, bäuerlichen Gesellschaft. Er bezeichnet sich als Atheist, hat aber immer wieder religiöse Themen aufgegriffen und Kontakt zu religiösen Kreisen gesucht. Ein Leben und Denken in Paradoxien.

1973 beginnt seine Mitarbeit bei der Tageszeitung Corriere della Sera, er verfasst kritische Artikel über die Probleme des Landes. 1975 veröffentlicht Garzanti die Sammlung seiner kritischen Schriften "Scritti corsari“ ("Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft“, Wagenbach, Berlin, 1978). Im November 1975 wird Pasolini auf bestialische Weise ermordet. Die Hintergründe des Verbrechens sind bis heute nicht restlos geklärt. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist seit 2006 in Arbeit.

Schreckliches, gewichtiges Vermächtnis

Pasolinis letzter Film "Salò o le 120 giornate di Sodoma“ ("Salò oder Die 120 Tage von Sodom“), frei nach Marquis de Sade, spielt im faschistischen Italien, wo sich in Salò am Gardasee die Reste der Nationalsozialisten und Faschisten gegen Kriegsende verbunkern. Der Film ist eine wahre Zumutung: Schonungsloser kann man mit den künstlerischen Mitteln des Spielfilms nicht gegen Faschismus, Nationalsozialismus und Folter vorgehen. Weit über das für den Betrachter Erträgliche hinaus wird die Bosheit, Grausamkeit und Unmenschlichkeit der nationalistischen Barbarei offenbart. Alle anderen Filme zu diesem Thema werden angesichts der Wucht der Bilder Pasolinis marginalisiert. Ein schreckliches und gewichtiges Vermächtnis.

Nico Naldini, Cousin Pasolinis und langjähriger Wegbegleiter, versucht in seiner Biographie eine möglichst objektive Darstellung von Person und Leben. In strenger Chronologie kommen vor allem Zeitzeugen zu Wort, Selbstdarstellungen und Briefzitate. Zitate aus Pasolinis Artikeln ergänzen das Bild einer faszinierenden, schwer zu beschreibenden Künstlerpersönlichkeit.

"Pasolini kämpfte ernstlich gegen den Konsumismus und die Verhaltensdogmen im Neokapitalismus. Seine ideologischen Schriften und Äußerungen sind aber nicht rationalistisch, wie aus den symbolistischen, hermetischen, ‚leidenschaftlichen‘ Formulierungen seiner Schriften deutlich wird. Pasolinis Wesen ist antiaufklärerisch, seine Utopie ist nicht perspektivisch, sondern nostalgisch“, schreibt G. Contini. "Eine repressive Welt ist gerechter, gütiger als eine tolerante Welt; denn in der Repression erlebt man große Tragödien, sie bringt Heiligkeit und Heroismus hervor. In der Toleranz definiert man die Verschiedenheiten, man analysiert und isoliert Anomalien, schafft Ghettos. Ich würde lieber zu Unrecht verurteilt als toleriert“ (Interview in Il Giorno, Januar 1973).

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