siberia - © Foto: Filmladen

„Siberia“: „Kamera zeigt, wer man ist“

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Abel Ferrara erzählt, wieso sein Film „Siberia“ im „freien Fall“ entstand, warum seine Frau zu viel Einfluss auf ihn hat und es nichts Besseres gibt als italienischen Espresso.

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Abel Ferrara erzählt, wieso sein Film „Siberia“ im „freien Fall“ entstand, warum seine Frau zu viel Einfluss auf ihn hat und es nichts Besseres gibt als italienischen Espresso.

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Der Filmemacher Abel Ferrara war einer der wenigen Star-­Gäste der Corona-­Viennale. Beim FURCHE-­Interview in Berlin nimmt er sich Zeit, über sein Werk und seine Karriere nachzudenken – und auch über seinen Viennale­-Beitrag „Siberia“ mit Willem Dafoe zu sprechen, der eine filmische Grenzerfahrung ist und ein Spiegel der Seele des legendären New Yorker Kult­-Filmers.


DIE FURCHE: Mr. Ferrara, was bedeutet „Siberia“ für Sie?
Abel Ferrara: Es gibt einige Einflüsse, die zu diesem Film geführt haben. Etwa Jack Londons Trinker­-Buch „König Alkohol“, das ich erst kürzlich wieder gelesen habe. Aber generell ist mir dieser Mist einfach eingefallen. Ich arbeite nicht nach einer Agenda, hatte nach dem letzten Film „Tommaso“ gar keinen Plan. Ich sitze dann herum, und plötzlich fällt mir so etwas ein. Meine Frau war schwanger damals, ich hatte wenig zu tun, befand mich im „freien Fall“, ein toller Zustand, um kreativ zu werden. So starten fast alle meine Projekte.

DIE FURCHE: Sind Ihre Filme auch und vor allem Zustandsbeschreibungen Ihres Seelenlebens, Ihrer Psyche?
Ferrara:
Das weiß ich nicht, aber ich kann sagen: Sie sind alle autobiografisch, denn sie kamen ja aus mir, aus meinem Kopf heraus. Und vor allem sind meine Filme allesamt Gemeinschaftsarbeiten, mein Team ist ja immer das gleiche: Wir sind eine riesengroße Familie, jeder weiß, was zu tun ist, und bringt sich entsprechend ein. Wir stechen alle in dieselbe Vene, um es mal mit den Worten eines Junkies zu sagen.

DIE FURCHE: Wie viel Einfluss hat Ihre Frau Christina auf Ihre Arbeit?
Ferrara: Viel zu viel! Sie ist so etwas wie meine Therapeutin. Ich liebe sie, sie ist die Mutter meiner Tochter. Ohne sie wäre es der halbe Spaß, und ich habe das coolste Familienleben, das ich mir vorstellen kann. Es kann jeden Moment vorbei sein mit der Coolness, das ist mir auch bewusst, aber gerade jetzt bin ich wahrscheinlich der glücklichste Familienvater und Ehemann der Welt.

DIE FURCHE: Mit Willem Dafoe haben Sie inzwischen einige Filme gemacht, ich erinnere mich an den großartigen „Pasolini“ (2014) oder an „4:44 – Last Day on Earth“. Was macht diesen Schauspieler so besonders für Sie?
Ferrara: Seine Körperlichkeit, sein Wille, sich in Gefahr zu begeben für eine Rolle. Ich muss ihm nicht viele Anweisungen geben, wir entscheiden alles von Moment zu Moment, von Szene zu Szene. Er führt in meiner Arbeit genauso viel Regie wie ich in seiner. Es ist wie eine Symbiose zwischen uns. Und wir teilen außerdem eine wesentliche gemeinsame Leidenschaft: die für italienischen Espresso.

DIE FURCHE: Als Sie „Pasolini“ drehten, bemerkten Sie, dass dieser Intellektuelle für Sie eine der größten Inspirationsquellen war. Inwiefern?
Ferrara: Ja, das stimmt. Pasolini ist in meiner DNA! Er war ein unglaublicher Denker, er hatte manche seiner Drehbücher aus dem Kopf auf Tonband diktiert, und die Sprache klang wie pure Poesie. Wenn mir jemand so ein Drehbuch gibt, dem küsse ich die Füße. Am Anfang wusste ich gar nichts über Pasolini. Ich war ein junger Mann und sah diese Filme – Pasolini war Italiener und damit für uns eine Alternative zu Belmondo und Delon. Ich sah „Decameron“ mit 20, ich habe seine Filme regelrecht aufgesaugt. So wie Fellini, Antonioni, Bertolucci, Rossellini. Das ist in Wahrheit der einzige Weg, wie man ein Filmemacher werden kann. Als Pasolini 1975 starb, war das wirklich ein schwerer Schlag für uns Cinephile. Seine Filme sind trügerisch simpel und haben zugleich so viele Deutungsebenen. Er ist ein bisschen wie der Messias für Filmemacher. Ein bisschen wie Jesus.

DIE FURCHE: Ist diese Verehrung für das italienische Kino auch der Grund, weshalb Sie heute in Rom leben?
Ferrara:
Ja, auch. Es hat sich so ergeben. Und Willem wohnt bei mir ums Eck. Wir lieben die Italiener. Und den Espresso eben auch.

DIE FURCHE: Sie haben als Filmemacher zunehmend mit kleiner werdenden Budgets zu kämpfen. Ein echter Nachteil für Sie?
Ferrara: Das Spannende am Filmemachen ist für mich nach all den Jahren das Gleiche geblieben: einen Film, eine Vision bis zum Ende hin begleiten und ausformulieren, im Schneideraum zusammen montieren und dann zu sehen, was dabei herausgekommen ist. Wenn man einen neuen Film macht, dann ist das so, wie wenn Sie einen schweren Felsbrocken den Hügel hinaufrollen möchten. Letztlich bestimmt der Dschungel da draußen, welche Filme gemacht werden und welche nicht. Als ich jung war, wollte ich das nicht glauben. Ich versteifte mich bei meinen Projekten, ganz nach dem Motto: „Dieser Film oder keiner!“ Aber wenn man ein Gambler ist, muss man wissen, wann man seine Karten tauscht. Ich würde nicht dafür sterben, um ein bestimmtes Projekt machen zu dürfen. Aber Sie haben recht: Es wird schwieriger mit den Finanzierungen solcher Filme. Manche meiner Arbeiten brauchten über 20 Zusagen verschiedener Förderstellen. Das ist eigentlich unglaublich.

DIE FURCHE: Ganz abgesehen davon, dass Sie Pasolini als Jesus bezeichnen: Welche Rolle spielt die Religion in Ihren Filmen?
Ferrara:
Ich bin in einem KlosterInternat aufgewachsen, mit 50 anderen Buben und eingesperrt von Nonnen. Heute sind viele aus bewusster Entscheidung Atheisten – und es wundert oft nicht, sieht man sich die Vorkommnisse an. Aber für mich geht es im spirituellen Sinn um die Fragen: Wer bin ich? Wo gehe ich hin? Was tue ich? Was lebe ich für ein Leben? Wer bin ich in Beziehung mit den Menschen, die ich liebe, oder mit allen Menschen? Diese Fragen bestimmen auch meine Filme, sie handeln davon, egal welche Religion darunter liegen mag. Man kann kein Thema forcieren, und die Kamera lügt nicht. Die Kamera wird immer reflektieren, was man ist.

DIE FURCHE: Mit fast 70 sind Sie produktiver als jemals zuvor, veröffentlichen fast jährlich einen neuen Film. Wann ist es für Sie an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen?
Ferrara:
Nie. Man arbeitet immer weiter und weiter, ich fühle mich nie so, als wäre ich irgendwo angekommen, an einem Punkt. Künstlerisch geht das Arbeiten also immer weiter.

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