Doppelbödige Beziehung in doppelbödiger Zeit

19451960198020002020

Howard Norman erzählt die Geschichte einer Frau, die sich mit einem fremden Bildnis identifiziert.

19451960198020002020

Howard Norman erzählt die Geschichte einer Frau, die sich mit einem fremden Bildnis identifiziert.

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Bild, "Jüdin auf einer Straße in Amsterdam", ist der Auslöser der Handlung des Romans "Der Bilderwächter" von Howard Norman, der bisher mit drei Romanen bekannt wurde. Die holländische Stadt hat mit der Geschichte allerdings wenig zu tun. Schauplatz ist das kanadische Halifax, wo das erwähnte Bild eines holländischen Malers ausgestellt ist. De Foe Russet wächst elternlos auf, sein einziger Familienangehöriger ist der exzentrische Onkel Edward, der ihm einen Job als Aufseher im Museum verschafft.

Dort lernt er Imogen Linny kennen, eine melancholische, distanzierte junge Frau, die auf dem jüdischen Friedhof arbeitet und in der Kunst das Höhere sucht, das sie in ihrem Leben vermißt.

"Imogen hatte ihren Rundgang durch die Landschaftsbilder beendet. ,Als Aufsicht taugen Sie vielleicht nicht sehr viel', sagte sie lächelnd, ,aber wissen Sie was, Mr Russet? Wenigstens gelangen Sie hier auf eine höhere Ebene.'

,Wie das?'

,Einfach dadurch, daß Sie den ganzen Tag lang in diesem Raum stehen. Sie passen auf erhabene Dinge auf. Gemälde. Zeichnungen. Ob Sie jedes einzelne davon mögen oder nicht - es sind erhabene Dinge. Das hebt Sie empor. So sehe ich das.'"

Der Roman zieht den Leser von den ersten Seiten an in seinen Bann. Die scheinbar klaren Verhältnisse werden zusehends verworrener. Nichts ist mehr, was es zu sein scheint. Die Geschichte stürzt einen dauernd in dunkle Vorahnungen. Obgleich man weiß, daß sie sich bewahrheiten werden, kommen die Wendungen überraschend und man will immer weiter lesen, voller Hoffnung und zugleich Angst, daß das eintritt, was man ahnt.

Imogen entwickelt eine Leidenschaft für das Bild der "Jüdin auf einer Straße in Amsterdam", die in eine Obsession ausartet und schließlich zu einer Art Psychose wird. Sie identifiziert sich derart mit der auf dem Bild Dargestellten, es ist die verstorbene Frau des holländischen Malers, daß sie glaubt, diese Frau zu sein. Zusehends entgleitet sie De Foe, der auch noch mit ansehen muß, wie sie ein immer größeres Interesse für seinen Onkel entwickelt.

Der Trinker, Lebemann und Freidenker Edward ist nicht bereit, aus Rücksicht auf seinen Neffen auf eine Freundschaft mit der jungen Frau zu verzichten. Der Teilnehmer am Ersten Weltkrieg wird seinerseits zusehends vom politischen Geschehen in Europa gepackt - der Zweite Weltkrieg steht bevor. Als der berühmte kanadische Radioreporter Ovid Lamartine in Halifax einen Vortrag über die Judenverfolgung in Europa hält, erhitzen sich die Gemüter in der kleinen Stadt und die Handlung kulminiert.

Norman legt mit seiner einfachen Sprache, welche die Protagonisten dem Leser nahebringt, die Zerbrechlichkeit der Beziehungen von Menschen frei, die nach einem Halt suchen. Die Übersetzung verstärkt allerdings eher unfreiwillig den Eindruck von Einfachheit: "Ich ging auf mein Zimmer hoch".

Unausweichlich steuert die Geschichte auf die Kollision von Kunst und Leben, von Politik und Träumen zu. Nachdem sie De Foe dazu gebracht hat, das Bild für sie zu stehlen, um eine Nacht damit zu verbringen, bricht die Jüdin Imogen zu ihrem vermeintlichen Mann in das kurz vor der deutschen Besetzung stehende Holland auf.

Der Bilderwächter. Roman von Howard Norman. Übersetzung: Maria Andreas. Europa Verlag, München 1999. 320 Seiten, geb., öS 321,-/e 23,32

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung