Ein Hexenritt durch die Lebkuchenfabrik

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Muss man vor Weihnachten schon die Erwartungen und Wünsche der Kunden erfüllen? Die Grazer Oper bleibt bei Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel“ zurückhaltend.

Dabei ist nach der Papierform das Feinste zu erwarten: Die Münchner und Wiener Kammersängerin Brigitte Fassbaender, die selbst jahrelang den Hänsel sang, hat für Graz mit ihrem Münchner/Innsbrucker Team Helfried Lauckner (Bühne) und Elisabeth Rauner (Kostüme) eine ernüchternde Fassung von Engelbert Humperdincks Gründerzeitoper erarbeitet, die ohne grünen Wald, goldene Schutzengel, appetitanregendes Knusperhäuschen, himmelstürmenden Hexenritt und Beschwichtigungsfinale auskommt.

Gagerlgelbringelgestreift und froschgrün sind die wenig attraktiven Kinderkostüme (man ahnt, bessere Kinderlabels können sich die Besenbinders nicht leisten), der Wald, in den die Kinder von der Mutter verjagt werden, ist weder gesund noch grün belaubt - vom sauren Regen gezeichnet, wird er von einer Riesenameise und einem köstlichen Erdmännchen bewohnt. Man wundert sich, dass Hänsel und Gretel noch Beeren finden, die sie verdrücken.

Engel als Vorfahren der Kinder

Der erste Akt spielt, von Fassbaender exakt durchchoreografiert, in einer ärmlichen Wohnküche, deren Kühlschrank leer ist, bis die "Nachbarin“ Hexe den Milchkrug der Kinder mit Rahm füllt. Die beiden Stockbetten dienen offenbar nicht nur den Kindern, sondern auch ihren Eltern als Schlafstatt. Das gibt doch ein wenig übers Märchenhafte hinausweisende Denkanstöße.

Der bezwingendste Regie-Einfall: Weil heute ja niemand mehr, auch Kinder nicht, an Engel glauben will, erscheinen die 14 Engel als Vorfahren der Kinder im Geister-Biedermeier, Geister-Fin de Siècle und Geister-Petticoat von 1830, 1900 und 1950. Ihre Erscheinung ist wirklich nicht von dieser Welt. Schutzengel, so hat man irrtümlich geglaubt, schauen anders aus.

Als die Kinder ausgeschlafen und vom Taumännchen mit einer Wasserspritzpistole aufgeweckt vor der Fabriksmauer landen, schiebt ihnen die Hexe ganz ohne "Wer knuspert da an meinem Häuschen“ Süßigkeitentabletts verlockend aus der Plakatwand. Trotz hinzu erfundenen "Lebkuchenmanns“ ist da nichts Lebkuchenartiges darunter. Vermutlich, weil die Hexe erst wieder liefern kann, wenn Hänsel und Gretel sich backen lassen.

Obwohl die Backstraße blinkt und rattert und zischt - zu sehen ist nischt. Hänsel wird nicht in einen Stall eingesperrt, sondern an einem Fleischerhaken fixiert. Na ja, die Befreiung gelingt, die Hexe wird in den Back-ofen gestoßen. Die Arme hatte ja nicht einmal ihren schwindelerregenden Hexenritt, der fand nämlich nur in der Fabrik statt.

Kein Klingone und kein Vampir

Musiziert wird unter dem dynamisch sehr fein differenzierenden Venezolaner Domingo Hindoyan meist unter Rücksichtnahme auf die jungen Stimmen, unter denen Sieglinde Feldhofer als herzerfrischende Gretel wohl die Siegespalme gebührt. Souverän auch Dshamilja Kaiser als Hänsel mit flotter Schiebermütze. Zart und innig Nazanin Ezazi als Sand- und Taumännchen. Manuel von Senden kann Grazer Hexenlegenden wie Josef Kepplinger und Ernst Dieter Suttheimer nicht den Lebkuchen reichen. Außerdem muss er wiederholt seine Omama-Perücke absetzen, damit die fernsehgestählten Kinder im Zuschauerraum wissen, dass er weder ein Klingone noch ein Vampir ist …

Fazit: Fassbaender hebt das Grimm’sche Märchen ins Heute samt Armutsdrohung und Kinderhunger, lässt die Mutter entnervt wegen des zerbrochenen Kruges und seines kostbaren Inhaltes überreagieren, sie und den Vater endlich unsentimental Verzeihung erlangen. Ganz bei Humperdinck geblieben sind die Inszenierung und die inbrünstigen jungen Protagonisten beim tief berührenden "Abendsegen“ im zweiten Akt.

Weitere Termine

23., 26., 28. Dezember, 6. Jänner

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