Ein Ketzer geht, seine Warnungen bleiben

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Der alte, zornige Mann mit Schnauzbart und langen Haaren kommt zu keinem Ende: Mehr als eine Stunde schon dauert das Interview - doch Joseph Weizenbaum macht keine Anstalten, aufzuhören. Auf simple Fragen antwortet er mit endlosen Polemiken, auf Nachfragen mit Geschichten. Weizenbaum, Pionier und selbst ernannter "Ketzer der Computerwissenschaft", ist sich dieser Marotte bewusst - und gibt sich am Ende des Gespräches einsichtig: "Eine meiner vier Töchter ist einmal zu mir gekommen und hat gesagt:, Daddy, wie spät ist es - und ich will nicht wissen, wie eine Uhr funktioniert…'" Die zwei Beobachter im Abseits, Peter Haas und Silvia Holzinger, kennen diesen Hang zum Ausschweifen aus eigener Erfahrung: Wochenlang haben sie Weizenbaum in seiner ersten und letzten Heimat Berlin mit der Kamera begleitet. Hier, in Wien, sollen im Mai 2006 noch weitere Sequenzen für ihr Porträt "Weizenbaum. Rebel at Work" entstehen.

Es ist ein pralles Leben, das sich in 80 Minuten Film entfaltet. 1923 in Berlin geboren, wächst Joseph Weizenbaum als Sohn einer jüdischen Kürschnerfamilie am vornehmen Gendarmenmarkt auf. 1936, als der 13-Jährige mit seiner Familie vor den Nazis fliehen muss, wird ein Persianermantel zum Startkapital für ein neues Leben in Detroit/Michigan. Joseph beginnt das Mathematikstudium - während des Krieges unterbrochen durch den Dienst in der US-Airforce - und geht im Anschluss nach Kalifornien.

Im Silicon Valley stehen noch Obstbäume - und alles ist möglich. Der junge Mathematiker und Tüftler Weizenbaum startet seine Karriere mit der Konzeption des ersten Computer-Banksystems. 1963 folgt die Einladung ans renommierte Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er bis 1988 lehren wird. 1966 gelingt ihm schließlich ein Coup: die Veröffentlichung des Computer-Programms ELIZA, mit dem er die Probleme der computergestützten Verarbeitung von natürlicher Sprache untersucht - und das als Meilenstein der künstlichen Intelligenz gefeiert wird.

Als Weizenbaum registriert, dass sich Psychologenverbände für den Einsatz der Software innerhalb der Psychotherapien interessieren, ist er entsetzt. Sein 1976 veröffentlichtes Hauptwerk "Computer Power and Human Reason. From Judgement to Calculation" ("Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft") wird zur Abrechnung mit gedankenloser Computergläubigkeit. Seither mobilisiert Weizenbaum die Öffentlichkeit gegen die "programmierte Gesellschaft" - auch in Berlin, wohin er 1996 nach dem Tod seiner Frau Ruth zurückkehrt.

Bei seinen Vorträgen füllt der alte Mann mühelos Säle - und ist ein Freund deutlicher Worte. "Das Internet ist eigentlich ein Schrotthaufen und verführt Menschen zur Selbstüberschätzung", schreibt er im Juni 2005 in einer Polemik für die Furche. Und das Fernsehen sei "die größte kulturelle Katastrophe", weil es zu Passivität führe und ein Zeitdieb sei. Auch im Furche-Gespräch vom Mai 2006 warnt er vor der "Mechanisierung unseres Denkens" - um irgendwann, fast am Ende des Interviews, eine "Gebrauchsanweisung für die Erde" zu liefern: "Das ist die Bergpredigt. Wenn sich auch nur die Christen daran hielten, sähe unsere Welt anders aus."

Am 5. März ist Joseph Weizenbaum nach langem Krebsleiden an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben. Doris Helmberger

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