Das legendäre Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine beschert den Wiener Festwochen mit "Les Éphémères" einen großartigen Auftakt.
Das im Jänner 2007 uraufgeführte Stück "Les Éphémères" (auf Deutsch etwa "die Vorübergehenden", "die Flüchtigen") erzählt keine Geschichte und es hat auch kaum eine Handlung. Die 30 kurzen Episoden bilden ein Mosaik aus isolierten, meist nur lose zusammenhängenden Alltagssituationen, kleinen intimen Begebenheiten, persönlichen Erinnerungen und existentiellen Schicksalsschlägen. Dabei werden keine Kuriositäten der Wirklichkeit gezeigt, sondern ganz alltägliche Momente, die in ihrer Summe erst sich zu einer größeren Geschichte fügen lassen. "Les Éphémères" ist eine Sammlung von Lebensfragmenten, deren Tenor Einsamkeit, Trauer, Melancholie ist, short cuts eines Krieges ohne Schlacht, eine Geschichte der Trennungen, Schnitte und Wunden, die die moderne Gesellschaft dem entzauberten Leben zufügt.
Theater total in St. Marx
In der Cartoucherie, einer ehemaligen Munitionsfabrik in Vincennes bei Paris, die der Truppe seit bald vierzig Jahren Heimstadt ist, wurde das Episodenstück in einem achtmonatigen, kollektiven Prozess erarbeitet und dafür eigens ein Theaterraum entwickelt. Das nun in der Rinderhalle St. Marx aufgebaute "Totaltheater" gleicht einem Auditorium. Das Spielfeld oder besser den Schauraum, ein längliches Oval, säumen zwei einander gegenüberliegende, steil aufsteigende, hölzerne Zuschauerrampen, die beste Sicht gewähren. Man fühlt sich kaum zufällig an einen Anatomiesaal erinnert. Tatsächlich folgt der Zuschauer hier einer Art öffentlicher Obduktion.
Auf runden oder eckigen, wenige Quadratmeter kleinen, fahrbaren Bühnen werden ganze Spielorte hereingerollt: eine sachliche Arztpraxis, eine nüchterne Notariatskanzlei, ein steriles Krankenhauszimmer, ein gepflegter Obstgarten und immer wieder unordentliche Küchen und vollgeräumte Wohnzimmer. Auf den sich immerfort drehenden Minibühnen spielen die Schauspieler kleine Miniaturen, manchmal ganz ohne Worte, wobei in der Summe dieser Revue so etwas wie die innere Verfassung unserer Gesellschaft offengelegt wird.
Zerbrechliches Glück
Mit einer gleichsam fotografischen Dramaturgie des Spots beleuchtet Mnouchkine Momente verschiedener Lebensläufe: Eine Frau verkauft schweren Herzens ihr Haus an einen frisch gebackenen Vater, der uns später wieder begegnen wird, als er und seine Frau sich längst fremd geworden sind und sich um die Tochter streiten; ein anderer verarztet seine Frau, die er vorher zusammengeschlagen hat; wieder ein anderes Ehepaar lässt sich gerade scheiden, eine alleinerziehende Mutter spielt mit der Tochter, um ihr den fehlenden Vater zu ersetzen, oder ein Kinderzimmer, ein Bild des zarten, zerbrechlichen Glücks, wo Kinder schlafend ein Glas mit einem Goldfisch in Händen halten, während der Vater auf der stürmischen See das karge Auskommen der Familie sichert …
Auffällig oft an diesem Abend klingelt das Telefon, wird an die gut verschlossenen Türen geläutet, geklopft oder getreten. Immer dringt das Unheil von draußen in die Sphäre des Privaten, die es zu schützen gilt.
Die Spielorte sind so detailreich gestaltet, als sollte dieser Naturalismus eine dokumentarische Wahrheit offenbaren. Bei Mnouchkine ereignet sich Schicksalhaftes nicht in der Tiefe, sondern an der Oberfläche des Gewöhnlichen. Sie stiftet nicht Bedeutung im altmodischen Sinne von Wahrheit, sie zeigt nur. Und so fordert sie ein, was ihr Theater immer schon prägte: aktive Teilhabe des Publikums. Es ist künstlerischer Wille und politisches Programm, das uns Geduld und Aufmerksamkeit abverlangt. Dieser grandiose, mit fast acht Stunden Dauer aber keine Minute zu lange Theaterabend funktioniert ein wenig wie eine Fotografie: Das Abbild des Lebens dauert im Betrachter fort, wenn das Abgebildete auch längst schon vergangen ist.