Entmystifizierung, nicht zu glauben

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Ein Buch aus dem Umfeld von Heribert Illig behauptet, daß auch Roswitha (gest. 973), die erste deutsche Autorin, nicht gelebt hat.

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Ein Buch aus dem Umfeld von Heribert Illig behauptet, daß auch Roswitha (gest. 973), die erste deutsche Autorin, nicht gelebt hat.

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Roswitha, wie sie die historische interessierte Nachwelt kennt: Die erste weibliche Autorin auf dem Gebiet des späteren Deutschlands. Sie ist hochgebildet, schreibt Dramen und religiöse Texte - in lateinischer Sprache! Eine ungewöhnliche Frau des 10. Jahrhunderts. Sie lebt im bedeutenden Frauenstift Gandersheim in der Diözese Hildesheim - einer Insel der christlichen und geistigen Kultur im 10. Jahrhundert.

Das Frauenstift steht vor allem in der Gunst hoher Frauen, etwa der byzantinischen Prinzessin und Königin Theophanu. Es erhält alle Vergünstigungen jener Zeit. Das erklärt die Bibliothek, wo Roswitha die Klassiker ihrer Zeit studieren kann und zu einer gebildeten Frau heranreift. Sie wird sogar zur Chronistin ihrer Zeit, schreibt die Geschichte des Lebens und Wirkens von Otto I. dem Großen. Ihre - über Jahrhunderte vergessenen Werke - wurden Ende des 15. Jahrhunderts von Conrad Celtes, einem ehrgeizigen Historiographen entdeckt.

Soweit die Geschichtsforschung bis zum Erscheinen des Buches von Alfred Tamerl, "Hrotsvith von Gandersheim. Eine Entmystifizierung". Tamerl will einem "Mythos" zu Leibe rücken und versucht zu beweisen, daß es Roswitha niemals gegeben habe. Eine Fälschung läge vor, des Humanisten Conrad Celtes, beziehungsweise der Nonne Caritas Pirckheimer, die in seinem Auftrag die Texte verfaßt habe, behauptet Alfred Tamerl.

Als er die Idee hatte, einer Fälschung auf die Spur zu kommen, glaubte Alfred Tamerl, ein Pionier zu sein - wie er im Buch offenherzig meint -, und mußte dann entdecken, daß schon vor ihm 1867 Joseph Ritter von Aschbach mit dieser These einen Historikerstreit entflammt hatte. Aschbach gilt in der Literaturgeschichte als Kuriosum und seine Thesen als weitgehend widerlegt, aber er hat in Alfred Tamerl hat einen späten Verbündeten gefunden.

Mit dem vorliegenden Buch ist somit ein Streit des 19. Jahrhunderts wiederbelebt: jener zwischen Joseph Aschbach und Rudolf Köpke. Letzterer hatte 1869 ein Standardwerk über Roswitha von Gandersheim verfaßt und sah sich der Meinung des Wiener Historikers Aschbach gegenüber, der behauptete, daß alles, was wir über Roswitha wissen, eine Erfindung jenes Conrad Celtes gegen Ende des 15. Jahrhunderts sei.

Im 15. und 16. Jahrhundert hat es eine Reihe von Fälschungen und Fälschern gegeben. "Verfälschern" wie Historiker meinen, denn meist kam es zu Ausschmückungen, Einfügungen von günstigen Rechtsfeststellungen und so weiter. Die Meister der damaligen Geschichtsschreibung waren der alten Schriften und Sprachen kundige Männer. Aber sie hatten ein völlig anderes Verständnis von Geschichtsforschung. Die Namen mit denen Alfred Tamerl sie bedenkt, muten abenteuerlich an: "Täter"; sie seien "Komplizen"; ihre Schriften nennt er "Machwerke"; er (und manch anderer) vermutet die größte Fälscheraktion der Geschichte. Alfred Tamerl - ein Sherlock Holmes der modernen Geschichtswissenschaft?

Da gibt es noch einen mit einer ähnlich unorthodoxen Idee: 1996 dachte der deutsche Publizist Heribert Illig öffentlich nach: Was wäre wenn 300 Jahre unserer Geschichte einfach frei erfunden worden wären? Er schaffte Karl den Großen ab - als eine erfundene Figur, um das Selbstwertgefühl und die Bedeutung der Geschichte einiger Herrscher und ihrer Chronisten aufzubessern ...

Wie gesagt - eine faszinierende Idee. Darüber hinaus blieben leider viele Fragen offen. Dafür hatte Illig einigen Erfolg an den Bücherkassen und großes mediales Aufsehen. (Mancher Historiker des Mittelalters hatte im Medienwirbel um Illigs Thesen zum ersten Mal vor großem Publikum über die Karolingerzeit zu reden.)

Das Buch "Hrotsvith von Gandersheim. Eine Entmystifizierung" ist im "Mantis"-Verlag des Heribert Illig erschienen. Hier schließt sich der Kreis. Der Versuch der "Entmystifizierung" der Hrotsvith von Gandersheim erscheint in dem Umfeld, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, jene Jahrhunderte des ersten Jahrtausends im endgültigen Nichts verschwinden zu lassen (in etwa die Zeit von 614-911). Das sollte nun noch nicht auch Roswitha eliminieren, die ungefähr von 935 bis 973 gelebt hatte. Aber nach dieser Theorie sind ihr und ihrer Existenz die Grundlagen entzogen: All das versucht Alfred Tamerl auf 327 Seiten zu beweisen. Folglich gibt es nach ihm auch Roswitha von Gandersheim nicht.

Das Resümee? Die Rezensentin glaubt ihm nicht - gehört also zu jenen, vor denen Tamerl bereits auf Seite 5 des Bandes warnt, indem er Joseph Aschbach zitiert: "Wie viele Fachmänner, welche vor allen anderen berufen sein sollten Fortschritte in ihrer Wissenschaft ruhig zu prüfen und genau zu würdigen, haben schon oft in blinder Leidenschaftlichkeit und gehässiger Befangenheit dieselben verworfen, wenn sie mit ihren Ansichten und Behauptungen nicht harmonierten!"

Es liegt an der strikten Weigerung des Autors historische Hilfswissenschaften ernst zu nehmen, wie die Paläographie, die er für "schwierig" und "unsicher" hält und sich auf "inhaltliche Argumente" konzentriert, die aus dem zeitgenössischen Kontext reißt - und oft mißversteht. Das Buch beeindruckt durch die umfangreiche Sammlung an Fakten. Freilich kann man mehr über die Zeit um 1500 lernen, aus der auch sämtliche Abbildungen im Buch stammen, als über eine Frau des 10. Jahrhunderts. Aber das scheint ja auch nicht das Ziel des Buches gewesen zu sein.

Hrotsvith von Gandersheim. Eine Entmystifizierung. Von Alfred Tamerl.

Mantis Verlag, 1999.327 Seiten, brosch. öS 279,-/e20,28

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