Erinnerung – oder Austritt

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Die Haltbarkeit einer Beziehung hängt vom Erinnerungsvermögen ab. Oder wenigstens vom Wunsch nach Erinnerung. Wenn mir zur Kirche nichts mehr einfällt außer die Miseren der jüngsten Vergangenheit, dann trete ich aus.

Um zu bestehen, muss ich mich daran erinnern können, dass mit Kirche etwas Großes gemeint ist, etwas, das zu all den Skandalen in einem krassen Gegensatz steht. Und das gegen alle Widerstände gelebt wurde und auch heute gelebt wird.

Wenn ich aber von all dem keine Ahnung habe, dann genügt die Vergesslichkeit eines Pfarrers. Er übersieht einen Trauungstermin, die Hochzeitsgäste und die Brautleute warten, doch der Pfarrer erscheint nicht. Beabsichtigte Konsequenz: Kirchenaustritt. Das Erinnerungsvermögen des Pfarrers lässt sehr zu wünschen übrig. Doch das Erinnerungsvermögen der Brautleute noch viel mehr.

Eine Künstlerin, Tatiana Lecomte, bekommt vom Land Niederösterreich und der Stadt St. Pölten den Auftrag zu einem Mahnmal. Es soll an die zwischen 1944 und 1945 in St. Pölten-Viehofen internierten Zwangsarbeiter erinnern. Im Lauf eines Jahres verschickt Tatiana Lecomte 20.000 Ansichtskarten an Einwohner von St. Pölten. Adresse und Botschaft sind mit der Hand geschrieben. Immer der gleiche Satz, derselbe, den jede Postsendung aus einem Lager jener Zeit enthalten musste: Ich bin gesund, es geht mir gut. Dazu die Webadresse www.mahnmal-viehofen.at für Informationen. Es gab sehr positive Reaktionen und erstaunlich viel Unverständnis und Ärger. Die Botschaft wurde als Bedrohung empfunden.

Ich muss mich wohl einer Frage stellen: Will ich mich erinnern lassen? Will ich wirklich eintauchen in dieses Land, die Gemeinschaft seiner Menschen? Oder lasse ich von außen niemand herein und trete innerlich aus?

* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien.

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