Eros knickt das Hüftleiden

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Mit "Ladies and Gentlemen: Bolero!" spielt die Tanzcompany des Tiroler Landestheaters einen neuen Trumpf aus. Tanzchef Enrique Gasa Valga erobert das Publikum mit seiner Vitalität.

Sechs ältere Damen in einem abgewohnten Zimmer. Sie stricken, lesen, naschen Petits Fours, kümmern sich um die Blumen und ihre Beschwerden. Sie haben eine Münze hinterlegt und wollen für sich bleiben. Max Raabe singt die Geschichten von den kleinen Fräuleins und der sinkenden Sonne. Da legt die Sechste eine Schallplatte mit Maurice Ravels "Bolero" auf. Der Rhythmus und die Unerbittlichkeit der Wiederholung fahren in die Herzen und die Glieder. Vielleicht wärmt sie nicht mehr, die sinkende Sonne - aber sie glüht. Die distinguierten und deformierten, die peniblen und überheblichen Damen, die Diven und die Mäuschen kommen auf Touren.

Stephan Thoss, Ballettdirektor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, hat seine "Bolero"-Version gegen die Schwüle gebürstet und ein urkomisches, in der Grundierung auch tragikomisches Stück geschaffen, das er nun auch vom Innsbrucker Ensemble erarbeiten ließ. Um das schwarze Zimmer mit den leuchtend roten Requisiten und die Kostüme hat er sich selbst gekümmert. Es ist ein umwerfendes Stück von der Sehnsucht nach Leben und dem Mut, sich jenen Momenten zu stellen, da man aus der Bahn in eine emotional gesteuerte, existenzielle Fremdbestimmheit geworfen wird.

Dabei entwickelt sich Tanz nicht aus aufflammender Jugendlichkeit, sondern aus individuellen Bedingungen heraus, aus Eleganz, Zickigkeit und körperlichen Beschwerden. Eros knickt das Hüftleiden. Die Tänzerinnen - Elisenda Cladellas Parellada, Laia Garcia Fernandez, Marta Jaén Garcia, Nadja Réthey-Prikkel, Clara Sorzano Hernández und Marie Stockhausen - charakterisieren hinreißend und tanzen die Damen in den Rausch. Bis zur Explosion.

"Ladies and Gentlemen: Bolero!" ist die aktuelle Ballettproduktion des Tiroler Landestheaters, für die Tanzchef Enrique Gasa Valga Thoss' "Bolero" gewinnen konnte. Dazu gibt er drei Tänzern seines Ensembles die Chance, die ihn selbst antreibt: Stücke kreieren. Clément Bugnon macht sich in "go on roots" Gedanken über die eigenen Wurzeln inmitten einer urbanen Gesellschaft, die ihre Herkunft nicht mehr hinterfragt.

Was unterscheidet den Menschen vom Tier?

Andrea Bibolottis Stück "Ego!" setzt sich über Zoe Keatings Celloklängen mit unheilbarem Egoismus und den entfremdenden Folgen auseinander. Yuya Fujinamis zentrale Frage in "Crowd" lautet, nicht nur im Hinblick auf Bewegung: Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Die Tänzer choreografieren teilweise überraschend unkonventionell, modern, gestisch, skulptural, aggressiv, lyrisch. Enorm kräfteraubend. Sie tanzen selbst mit höchstem Einsatz, und mit ihnen Serge Desroches, Carlos Contreras Ramirez, Michal Dousa, Andrii Lytvynenko.

Gasa Valga steigert am Tiroler Landestheater die Tanzbegeisterung des Publikums zum Enthusiasmus. Er war umschwärmter Tänzer der Company, leitete sie nach dem Weggang Birgit Scherzers interimistisch, wurde aber bald zum Tanzchef bestellt.

In den erst eineinhalb Jahren seither entlädt sich seine choreografische Fantasie. "Olé! Es lebe das Leben!" band in der letzten Saison die Sopranistin Christine Buffle mit ein und musste zu Saisonende wiederaufgenommen werden. Dasselbe passiert jetzt mit "Was bin ich", einer Selbstdarstellung der Tänzerinnen und Tänzer, die eigentlich abgespielt ist, aber im Mai/Juni 2011 erneut zu sehen sein wird.

In den Jänner 2011 hinein verlängert wird auch Gasa Valgas vergangenen Oktober uraufgeführtes bedeutendes Stück "Georg Trakl". Da setzt er sich anspielungsreich, klug, sensibel und leidenschaftlich mit dem Leben des expressionistischen Dichters auseinander. Seine Vorliebe für Amalgamierung der Genres erfüllt der Schauspieler Helmuth A. Häusler mit sensitiver, klarer Rezitation und viriler Körperlichkeit grandios. Dazu kommt Stefan Neuners E-Gitarre als Trakls Seelenton, die anrührende Marie Stockhausen als Trakls Schwester Gretl und die geflügelte Clara Sorzano Hernández als das Kokain meinender Weißer Engel.

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