Gedankenexperiment in Romanform

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Buchtipp von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur

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Standish Tradwell liebt Wörter - obwohl er nur in Gedanken über sie verfügt. Denn der 15-jährige Standish kann weder lesen noch schreiben. Gerade das macht ihn zu einem Erzähler, der aus der Norm fällt: Aus der Mündlichkeit seiner Welt heraus schildert er jene Ereignisse, die er in seiner intuitiven Alltagsklugheit wahrnimmt und auch selbst durchaus gewieft vorantreibt. Ein Vergleich mit dem wenn auch jüngeren, so mittlerweile doch zur Kultfigur gereiften Rico von Andreas Steinhöfel liegt nahe; und wird bestätigt, indem Andreas Steinhöfel Standish Tradwell in der Hörbuchversion des Romans seine Stimme leiht. Allerdings: Das Setting ist hier ein ganz anderes. Die britische Autorin Sally Gardner legt ein Gedankenexperiment in Romanform vor und nutzt dabei Momente des historischen Erzählens ebenso wie Gestaltungsmittel der Dystopie: Explizit verortet in den 1950er-Jahren wird eine Art Nachfolgestaat jenes autoritären Systems vorgestellt, in dem zum Gruß zackig die rechte Hand gehoben wurde. Mutterland wird es hier genannt und hat seinen Einflussbereich wohl auch auf die ehemaligen britischen Inseln ausgeweitet; zumindest lassen die Figurennamen darauf schließen.

Widerstand gegen einen Überwachungsstaat

Selektion, Vernichtung und Verfolgung als politische Merkmale werden konsequent weitergedacht und ungeschönt in den Handlungsverlauf integriert. So verdichtet sich zum Beispiel in der Figur eines Lehrers jenes Ausmaß an Grausamkeit, mit dem individuelles (und kollektives) Selbstbewusstsein durch die Herabwürdigung (und letztlich Vernichtung) unwert scheinenden Lebens abgesichert wird.

Standish lebt innerhalb dieses Mutterlandes an jenem Rand, an den die nicht Opportunen abgedrängt werden. An der Peripherie dieser Peripherie bewohnt er mit seinem Großvater ein Haus in einer zerfallenen Siedlung - diesseits einer Mauer, hinter der sich das zentrale Geheimnis des Mutterlandes verbirgt: Ein Arbeitslager, das einem Prestigeprojekt dient. Gewitzt nimmt Sally Gardner hier auf eine beliebte Verschwörungstheorie Bezug -auf jene vom Fake der Mondlandung im Fernsehstudio. In kurzen Einheiten folgt der Roman den Gedankensprüngen, Erinnerungen und Was-wäre-wenn-Konstruktionen seines liebenswerten Ich-Erzählers und entrollt entlang der Freundschaft zwischen Standish und dem Nachbarjungen Hector sowohl eine spannend zu lesende kindliche und jugendliche Biografie als auch die Geschichte des Widerstandes gegen einen Überwachungsstaat, die auf vielfache Weise tragisch endet. Letztlich aber vielleicht dennoch glückt!?

Zerbrochener Mond

Von Sally Gardner, übersetzt von Ingo Herzke, Carlsen 2014.

288 Seiten, gebunden, € 17,40

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