Kann so das Böse aussehen?

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Berlin, Ende August: Der zehnjährige Sohn meiner Freundin wird in der S-Bahn von Jugendlichen überfallen. Meine Freundin am Telefon, weinend. Mir verdunkelt sich der Sommertag – als wäre das Böse plötzlich real, im selben Zimmer. Gewalt, Angriffe auf Kinder durch wenig Ältere, Übergriffe, die an Bedrohlichkeit die Raufereien unserer Kindheit weit hinter sich lassen: Das war bis jetzt ein abstraktes Medienthema. Das gab es in Bezirken, in die „wir“ selten kommen, in Wien-Favoriten vielleicht, in Berlin wohl in Neukölln, aber nicht im gutbürgerlichen Mitte, wo meine Freundin wohnt und ihr Sohn in die Schule geht.

Kann so das Böse aussehen: wie zwei milchgesichtige, schmale Burschen?

Vor einem knappen Jahr trat das Böse an der S-Bahn-Station München-Solln auf den Plan, in schlimmstmöglicher Form. Ein langer, leerer Samstagnachmittag im September. Und dann das Unfassbare: Zwei noch nicht volljährige Burschen erschlagen einen Mann, der sich schützend vor eine Gruppe von Teenagern gestellt hatte. Alkoholisiert waren die Täter, Drogen in den Taschen, und als die Geschichte ihrer Unterschichtssozialisation durch die Presse ging, war das Urteil klar: der Tote ein Held, die Schläger (vor-)verurteilt als Mörder.

Nun hat der Prozess begonnen, und der Fall wird zunehmend schwer durchschaubar. Die Zeugen widersprechen einander, und die Rollen sind nicht mehr klar verteilt. Offenbar hat der vermeintliche Held die aggressionsbereiten Jugendlichen provoziert, hat als Erster zugeschlagen. Hat er falsch gehandelt? Hat er womöglich eigene Spannungen abbauen wollen, einen Faustkampf angezettelt, der ihm im Moment willkommener war als seinen Gegnern?

Der Prozess hat begonnen. In seiner Komplexität wird er das ganze Ausmaß der Ratlosigkeit spiegeln, mit der wir extremer Gewalt von Jugendlichen gegenüberstehen. Und die Tatsache, dass die Schuldfrage nicht nur im Fall Solln sehr schwierig zu beantworten ist.

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