Kind in moralischen Zwickmühlen sein

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Lore heißt eigentlich Hannelore, ist 15 Jahre alt und als älteste Tochter eines ranghohen Nationalsozialisten im unerschütterlichen Glauben an Führer, Volk und Vaterland aufgewachsen. Während sie und ihre Geschwister munter über die Wiesen im Schwarzwald hopsen, werden zeitgleich in ganz Europa Menschen systematisch umgebracht. Doch davon bleibt Lores heile Welt unberührt - bis ihr Vater, ein Offizier der SS-Totenkopf-Division, im Frühjahr 1945 aus dem Osten zurückkehrt und sich das Leben der wohlbehüteten Teenagerin schlagartig ändert: Ihr Deutschland existiert nicht mehr, die Eltern werden von den Alliierten verhaftet, und Lore muss von einem Tag auf den anderen die Verantwortung für ihre vier jüngeren Geschwister übernehmen. Die Flucht zur Großmutter in den Norden Deutschlands führt sie quer durch die Sektoren der Siegermächte und lässt sie in eine für sie unbekannte Parallelwelt eintauchen - statt NS-Ideologie und Herrenmenschentum regiert Hunger, Angst und Kälte.

Trotzig klammert sich die 15-Jährige an das, was ihr als "anständiges“ deutsches Mädchen beigebracht wurde: Doch die Fundamente der nationalsozialistischen Erziehung bröckeln langsam und mischen sich zunehmend mit Angst und Zweifel.

"Die dunkle Kammer“ verfilmt

Letztere hatte auch die australische Filmemacherin Cate Shortland, als sie vor der Entscheidung stand bei der Verfilmung der "Lore“-Novelle aus dem Roman "Die dunkle Kammer“ Regie zu führen: "Der Gedanke, Rachel Seifferts Roman als Film zu adaptieren, hat mir zunächst Angst gemacht - sie erzählt beobachtend und wertet nicht. Aber diese Geschichte war mir sehr wichtig: Die Frage, was es bedeutet, das Kind von Tätern zu sein.“ Eine eindeutige Antwort gibt auch das Nachkriegsdrama "Lore“ nicht, vielmehr nähert sich Shortland in einem Mix aus Coming-of-Age-Story und Road-Trip unterschiedlich der Täter-Opfer-Thematik.

Während Lore als indoktriniertes "Täterkind“ mit Desillusionierung und Resignation auf die veränderten Verhältnisse reagiert, entwickelt ein junger KZ-Häftling, der gestohlene jüdische Papiere bei sich hat, einen unbändigen Überlebenswillen, der sich auch auf die "arische“ Kindergruppe überträgt. Einfühlsam und ohne erhobenen Zeigefinger beleuchtet Shortland die moralischen Zwickmühlen, in denen sich eine junge Generation von "Siegern“ und "Besiegten“ zu einem Zeitpunkt befindet, an dem die Vergangenheit noch nicht vorüber und eine Zukunft noch nicht in Sicht ist.

Individuelle, nicht kollektive Entscheidung

Shortlands Aufarbeitung der Nachkriegswirren aus dem kindlich-naiven Blickwinkel der Protagonisten erweist sich dabei als Glücksgriff: Die großen ideologischen Schuldfragen rücken zugunsten individueller Gewissensentscheidungen in den Hintergrund, während die anonyme Fratze des Krieges sich in konkreten unschuldigen Kindergesichtern widerspiegelt. Eines davon gehört der großartigen Lore-Darstellerin Saskia Rosendahl, die bei der heurigen Berlinale für ihre Rolle mit dem "Shooting Star“-Award ausgezeichnet wurde - zu Recht: Mühelos changiert die deutsche Newcomerin in ihrer ambivalenten Charakterrolle zwischen privilegierter Nazi-Göre und verunsichertem Flüchtlingsmädchen, die sich urplötzlich von ihrer Kindheit verabschieden muss und mit Tod, Leid und Zerstörung konfrontiert ist. Gekonnt ins Bild gesetzt wird sie dabei von Adam Arkapaw, der sich bereits mit seiner Kameraarbeit im Down- under-Thriller "Snowtown“ einen Namen gemacht hat.

Wo in vergleichbaren Filmen durchgängig der apokalyptische Schrecken herrscht, steckt Arkapaw in "Lore“ mit betörenden Bildkompositionen das visuelle Umfeld der Erzählung ab: Erschütternde Bilder von der verbrannten Erde des Krieges wechseln mit impressionistischen Einstellungen von saftig grünen Wiesen und Märchenwäldern, die Lore auf ihrer Flucht durchquert. Ein trügerisches Naturidyll, das am Ende des australischen Beitrags für den Auslands-Oscar 2013 den Zuschauer nicht aus der Verantwortung entlässt, darüber nachzudenken, wie er sich selbst inmitten des (Nach-)Kriegsgrauens verhalten hätte.

Lore

D/AUS/GB 2012. Regie: Cate Shortland. Mit Saskia Rosendahl, Kai Malina. Polyfilm. 109 Min.

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