Kundschafterin und Abgesandte

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Paris, im Jahr 1894: Hier setzt Dirk Kurbjuweits Roman ein: Emma Herwegh empfängt in groggetränkter Atmosphäre einen Dramatiker namens Wedekind.

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Paris, im Jahr 1894: Hier setzt Dirk Kurbjuweits Roman ein: Emma Herwegh empfängt in groggetränkter Atmosphäre einen Dramatiker namens Wedekind.

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Vorbei sind die Zeiten, da Sammelbände zur Geschichte der politischen Lyrik erschienen und es zum guten Ton eines aufgeklärten Germanistikstudiums gehörte, sich mit "gesellschaftskritischer" Dichtung von Heinrich Heine bis Wolf Biermann zu befassen. Autoren, die sich auf sehr direkte Weise mit dem Zeitgeschehen beschäftigen und womöglich gar an ihren Einfluss auf den Weltenlauf glauben, stehen nicht hoch im Kurs, und so sind die meisten einst viel interpretierten deutschsprachigen Dichter, die zum Genre der politischen Literatur gehören, die Weerths, Freiligraths und Dingelstedts, im Orkus des seligen Vergessens verschwunden. Dazu zählt auch der Vormärzlyriker Georg Herwegh, der mit seinen "Gedichten eines Lebendigen" große Erfolge feierte, wirkmächtige Verse wie "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will" schrieb und inzwischen nicht mal mehr mit einer Werkauswahl in Reclams Universal-Bibliothek vertreten ist.

Unkonventionelle Ehefrau

Der Journalist und Romancier Dirk Kurbjuweit will dem in seinem neuen Buch entgegenwirken, wenngleich es ihm weniger um den von Heinrich Heine als "eiserne Lerche" bespöttelten Herwegh als um dessen unkonventionelle, engagierte Ehefrau Emma geht. Diese überlebte ihren 1875 verstorbenen Mann um ein gutes Vierteljahrhundert und verbrachte die letzten Lebensjahre in Paris. Genau dort, im Jahr 1894, setzt Kurbjuweits Roman ein: Die unter Geldnöten leidende Emma Herwegh empfängt in groggetränkter Atmosphäre einen gerne teure Datteln verzehrenden Dramatiker namens Wedekind, dem seine Eltern den fantasievollen Vornamen Benjamin Franklin gaben. Dessen Skandalstück "Frühlings Erwachen" ist zwar bereits gedruckt erschienen, doch seine Uraufführung liegt noch in weiter Ferne.

Zwischen der resoluten Emma Herwegh und dem sich in obskuren Etablissements herumtreibenden Wedekind entspinnen sich lebhafte Gespräche, die zu Rückblenden in Emmas bewegtes Leben führen. So sind wir mit einem Mal im Jahr 1842, als sie, Tochter eines vermögenden Kaufmanns, den revolutionären Dichter kennenlernt und beide wenige Monate später heiraten -allen Widerständen zum Trotz. Kurbjuweit verfolgt in seiner Romanbiografie zwei unterschiedliche, eng miteinander verwobene Erzählstränge: So zeigt er, als es um die Revolution von 1848 geht und Georg Herwegh seinen badischen Kombattanten von Paris aus eine deutsche Legion zur militärischen Unterstützung zuführen will, eine tatkräftige Emma, die sich nicht mit der Rolle der stillen Dichtersgattin begnügt und zur Verblüffung aller als Kundschafterin und Abgesandte politisch aktiv wird. Als das Engagement der Herweghs unglücklich verläuft, sind sie auf der Flucht, gehen ins Exil nach Südfrankreich und schließlich nach Zürich.

Frank Wedekinds lauscht Emma Herweghs Erzählungen interessiert, doch wirklich hellhörig wird er erst, als sie ihm intime Details aus ihrem Eheleben auftischt. Georg, der mit Karl Marx und Bakunin zusammenkam, zeigt sich fasziniert von dem Gedanken, den revolutionären Impetus auf das bürgerliche Liebesleben zu übertragen. Die "freie Liebe" soll realisiert werden -ein Projekt, das Emma Herwegh spätestens dann in Verzweiflung stößt, als sich ihr Mann in die junge Natalie, Frau des russischen Philosophen Alexander Herzen, verliebt. Vor Emmas Augen stürzen sich beide in eine leidenschaftliche Affäre, die zu absurden Konstellationen führt. Emma hat eine Zeit lang als Überbringerin der zahllosen Briefe Natalies zu fungieren, erträgt tapfer eine unglückselige Ménage à quatre und schlägt dem gehörnten Alexander letztlich vor, als Ersatzehefrau an seiner Seite zu leben. Fassungslos hört der amourenerprobte Wedekind Emmas Erzählungen zu und kann kaum glauben, wie diese selbstbewusste Frau alle Erniedrigungen ertrug. Dass die Befreiung von der Monogamie den Menschen mitunter überfordert, wusste schon der Marx-Freund Arnold Ruge, der, als er von der Herzen-Affäre hört, nüchtern festhält: "Es ist nämlich der Sinn der Sache, dass aus dem Karneval der freien Liebe ihre Tragödie wird."

Matter Schemen

Dirk Kurbjuweit hat sich mit langsam erzählten, psychologisch austarierten Romanen wie "Zweier ohne","Kriegsbraut" und "Angst" einen Namen gemacht, und viele seiner erzählerischen Qualitäten finden sich in "Die Freiheit der Emma Herwegh" wieder. Dennoch krankt der Roman daran, dass er nicht den angemessenen Ton für die erregten, skandalösen Ereignisse findet und dass manche der zum Leben der Herweghs gehörenden Episoden wie eine Pflichtaufgabe abgearbeitet werden. Wie es einem soliden Biografen gemäß wäre, baut Kurbjuweit ein, was unverzichtbar erscheint: die heftig kritisierte Audienz etwa, die der preußische König Friedhelm Wilhelm IV. Georg Herwegh gewährte, oder das Erscheinen eines äußerst folgenreichen Buches, des "Manifests der Kommunistischen Partei". Für einen packenden Roman, der von unerhörten revolutionären und sexuellen Umtrieben zu erzählen hat, reichen dieses Pflichtbewusstsein und Kurbjuweits ruhiger, das Innenleben seiner Protagonisten bedächtig ausleuchtender Ton freilich nicht aus. Es mangelt an Feuer, an Leidenschaft, an erzählerischem Wagemut. Die Person der emanzipierten, unerschrockenen Emma Herwegh mag durch diesen Roman eine verdiente Hommage erfahren, als literarische Figur bleibt sie zu sehr ein matter Schemen.

Die Freiheit der Emma Herwegh Roman von Dirk Kurbjuweit Hanser 2017 336 S., geb., € 23,70

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