Der Genius der Kaiserstadt

Im Vorwort zu dem Werk „Wiener Skizzen” weist der Autor und Illustrator Gerhard Ulrich auf die sublime und vielgestufte Klangwelt des Wiener Dialekts hin, dessen Kenntnis er für unerläßlich hält, um den Genius der ehemaligen Kaiserstadt beschwören zu können. Besonders schwierig sei — so meint der Verfasser — die Transkription dieser Mundart, und deshalb bittet er, der Berliner, schon im vorhinein um „Gnade für alle Vergehen”, deren er sich bei der Wiedergabe von Äußerungen und Gesprächen ungewollt schuldig machen sollte. Nun, man kann dem preußischen Autor guten Gewissens bescheinigen, daß er dem Mann aus dem Volk „aufs Maul geschaut” sowie den Wienern fast aller Altersklassen und den Repräsentanten zahlreicher Berufe deren typische Ausdrucksweise abgelauscht hat. Mit der Mentalität eines empfindsamen Reisenden erspürt Ulrich die Atmosphäre des alten Wien, und als scharf beobachtender Realist durchleuchtet er verständnisvoll, aber keineswegs vertrauensselig die Eigenarten und Eigenheiten der Wiener in unseren Tagen, so ergeben sich geistvolle, mit trockenem Humor gewürzte Betrachtungen: letzten Endes sind sie nichts anderes als Liebeserklärungen an eine Stadt, die in den Türkenkriegen Bollwerk des Abendlandes war und nunmehr für alle Europäer zum Ort der Begegnung und Verständigung geworden ist.

Vom Standpunkt ausgehend, daß sich oft gerade in „Unwesentlichkeiten” das verborgene Wesen der Dinge und Menschen enthüllt, befaßt sich Ulrich in erster Linie mit Augenblicksimpressionen, die span-

nungs- oder stimmungsgeladen und daher geradezu symbolhaft sind, Dadurch vermag er, der Realist, Erlebnisse und Begegnungen in metaphysische Bereiche zu transponieren. Auf dieser Konzeption beruhen auch seine ein- und mehrfarbigen Illustrationen. In dieser Gesinnung besuchen wir mit Gerhard Ulrich unter anderem die Augustinerkirche und die Kapuzinergruft, die Spanische Reitschule, das Burgtheater und den Prater, Grinzing und Schönbrunn sowie die Gedenkstätten Haydns, Mozarts, Beethovens und Schuberts, aber auch Beiseln und Kaffeehäuser, deren Gäste sich auf echt Wienerisch unterhalten und sogleich eine gemütliche Stimmung aufkommen lassen.