Dichter an der deutschen Mauer

Die politische Situation der deutschen Teilung gilt auch als Herausforderung an die Lyrik. Schmerz und Trotz, Melancholie und Zynismus, Engagement und Resignation stehen in den Zeilen der Autoren, die Kurt Morawietz in diesem Buch gesammelt hat. Fast alle Stilmittel der Lyrik des 20. Jahrhunderts werden eingesetzt, von der getragenen Hymnik der Gertrud von le Fort bis zur schnodderigen Provokation Wolfdietrich Schnurres. Gut zwei Drittel der Anthologie bestehen aus Gelegenheitsprogrammversen. Während in Ostdeutschland auch die junge Generation zu einem Großteil im Tonfall des aggressiven Heimatrealismus schreibt, ist diese Diktion im Westen eine Spezialität mehl oder minder nationalpastoraler Exponenten älterer Jahrgänge. Mit einigen Beispielen — Walter Buch ebner, Linus Kefer, Manfred Scheuch — ist auch Österreich in diesem Band vertreten.

Die geistige Desorientierung, die der Herausgeber bewußt dokumentieren wollte, ist der bleibendste Eindruck nach der Lektüre dieses Werkes. Die tiefe Verwundung des deutschen Landes, das den oberflächlichen Betrachter mit seiner blühenden Wirtschaft täuscht, deprimiert diese Lyrik, die an Aussagekraft mehr Wahrheit als manche Statistik enthält. Schwerer denn je wird die geistige Selbstfindung dieses deutschen Volkes gelingen. Die Dichter, denen man einst vorwarf, zu einem großen politischen Unrecht geschwiegen zu haben, erheben heute ihre Stimme. Mehr können sie nicht tun. Ihre Ohnmacht schreit