Mit Fäusten und martialischen Sprüchen

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Vater-und großelternlos aufgewachsen im Sozialbau, verbindet den 16-jährigen Luis mit der Mutter vor allem der Alkoholmissbrauch. In der Clique ist er "ein Bringer" und in der Hierarchie weit oben. Verena Güntners Debütroman ist eine Geschichte aus dem Jugendmilieu.

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Vater-und großelternlos aufgewachsen im Sozialbau, verbindet den 16-jährigen Luis mit der Mutter vor allem der Alkoholmissbrauch. In der Clique ist er "ein Bringer" und in der Hierarchie weit oben. Verena Güntners Debütroman ist eine Geschichte aus dem Jugendmilieu.

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Im Debütromangewerbe sind Comingof-Age-Geschichten beliebt, was in der Regel mit dem jugendlichen Alter der Schreibenden zu tun hat. Außerdem ist mit dem Öffnen der Genre- und Literarizitätsgrenzen auch jene zum Jugendroman durchlässig geworden. Die Feuilletons begrüßen eine flott geschriebene Geschichte aus dem Jugendmilieu oft besonders euphorisch, und Deutschlehrende, so sie das Lesen von Büchern überhaupt noch auf ihrem Lehrplan haben, freuen sich über einen dem Erlebnisbereich ihrer Schüler entnommenen Lesestoff. Das entspricht der Vorstellung, es gelte die zukünftigen Lesenden dort abzuholen, wo sie selber stehen: mitten in der Pubertät.

Beinhartes Training in Wettpissen

Verena Güntner, geboren 1978, erzählt in "Es bringen" allerdings von einer Jugend, die etwa um ihr Geburtsjahr spielen dürfte. Jedenfalls kennen die Youngsters, die hier zugange sind, weder Handy noch Facebook. Ihre Treffen organisieren sie mit Pfiffen vor dem jeweiligen Fenster, Mobbing passiert noch vor Ort, mit Fäusten und martialischen Sprüchen. Für einen Auszug aus dieser Jugendgeschichte erhielt die Autorin 2013 den Kelag-Preis beim Wettlesen in Klagenfurt. Der Roman "Es bringen" ist "ein überzeugendes Oszillieren zwischen Zärtlichkeit und Kraft", so ist das Urteil eines der Juroren am Cover zu lesen.

Vielleicht haben diese Zuschreibungen zum Auszug besser gepasst als zum fertigen Roman. Zärtlichkeit ist jedenfalls ein Begriff, der einem dazu spontan nicht einfallen würde. Das liegt an der Erzählposition, die dem 16-jährigen Luis gehört. Er kennt weder seinen Vater noch seine Großeltern, die wechselnden Lebensabschnittsbegleiter seiner Mutter haben deren Erfahrungen im gewalttätigen Elternhaus in das Leben ihres Sohnes prolongiert. Die beiden verstehen sich aber durchaus gut, die fortwährend herbeizitierte gleiche Zahnlücke verbindet sie ebenso wie ihre Alkoholexzesse, manchmal sogar gemeinsam. Luis war zwölf, als er sich das erste Mal mit seiner "Ma" so "richtig zusammen besoffen" hat.

Das Umfeld in dieser verwahrlosten Sozialwohnung im 15. Stock ist also reichlich trist. Doch Luis verfügt über viel Energie und auch Intelligenz, beides verschwendet er an das beinharte Trainingsprogramm, mit dem er sich in seiner Doppelrolle als Trainer und Mannschaft all die Skills aneignet, die in seiner Clique jeweils zählen. Das kann Zielspucken sein, Wettpissen oder auch das Überwinden seiner HA genannten Höhenangst. Aktuell geht es vor allem um das Imitieren der Machtgesten, die er dem bewunderten Alphatier Milan ablauscht, der die kleine Gruppe dominiert.

Seinen zweiten Platz in der Hierarchie verdankt Luis der Bereitschaft zum WF. Milan sammelt Wetteinsätze ein, wenn er Luis auf ein Mädchen ansetzt, bei dem der dann das F-Wort möglichst ohne Umwege in die Tat umsetzt - eine abgewandelte Einübung in die Durchdringung von Erotik mit kapitalistischen Codes. Zärtlichkeit ist dabei naturgemäß nicht gefragt, offenbar auch von den Mädchen nicht, die alle immer, oder doch fast immer, sofort und willig bei der raschen Sache dabei sind. In der eigenen Klasse fehlt Luis nur mehr ein weibliches Exemplar. Im Schwimmbad - Standardschauplatz dieser Art von Jugendgeschichten, zumal in der Kleinstadt - und sogar im besseren Kaffeehaus lässt sich der Interessentinnenkreis nahezu nach Belieben ausweiten. Um die eingegangenen Wettbeiträge werden nach Luis' ausführlichem Bericht über den Akt Alkoholika für die Gruppe besorgt. Außer Milan und dem von Luis erbarmungslos verspotteten adipösen Marco bleiben die Buben namenlos, zumindest bis kurz vor dem Schluss, als die Gruppenstrukturen radikal neu aufgemischt werden.

Ein farbloser Versager

Das, was der Begriff Zärtlichkeit meint, empfindet Luis am ehesten für das Pony Nutella, das auf der letzten übrig gebliebenen Wiese des Viertels grast, Kraft aber verwechselt Luis mit juveniler Potenz. Die simple Derbheit, mit der er davon erzählt und wieder und wieder erzählt, ist ein wenig ermüdend. Eine korrigierende Perspektive gibt es auf Romanebene nicht wirklich, denn Luis kann sie nicht sehen. Die Reflexionen über die Vorgeschichten einzelner Akteure, die Verena Güntner ihn anstellen lässt, wirken aufgesetzt und bleiben ohne Folgen für sein Verhalten. Selbst den Turnlehrer, der sich wiederholt um ihn kümmert, sieht Luis nur als farblosen Versager. Freilich wird am Ende deutlich, dass Luis' Perspektive und die Realität recht weit auseinanderklaffen.

Es bringen

Roman von Verena Güntner

Kiepenheuer & Witsch 2015 256 Seiten, kart., € 10,30

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