Mühe des Zusammenhangs

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Noch einmal Thomas Merton (die Furche widmete ihm zuletzt eine ganze Seite): "Ich bin, was ich erzähle", soll er gesagt haben, auf der Suche nach dem roten Faden in der Geschichte, in seiner Geschichte. Vor 30 Jahren befand die literarische Mode, dass Erzählen obsolet sei. Wer es dennoch tat, wurde der Trivialliteratur zugewiesen, die sich dann in Serien und Telenovelas als besonders fernsehtauglich erwies. Als Michael Köhlmeiers Nacherzählungen der griechischen Sagen unerwarteten Erfolg hatten, erklärte er mir, Grund sei der Zusammenhang: Alle diese Geschichten seien miteinander verknüpft, der Hörer fühle sich in diesem Netz geborgen.

Naheliegend, dass Köhlmeier daraufhin auch die biblischen Geschichten in sein Repertoire aufnahm. Die Bibel bietet einen ununterbrochenen Erzählfaden, sie bietet ein Formular, in das die je eigene Geschichte eingeschrieben werden kann. "Der warme Wind bemüht sich noch um Zusammenhänge, der Katholik", spottete Bertolt Brecht in seinem "Ersten Psalm", während er selbst darin nur "vereinzelt" vorkommt. Zu den Jubilaren des Jahres gehört auch Adalbert Stifter. Er erzählte und erzählte und war doch zuletzt so vereinzelt, dass er den Tod suchte. Kann das Netz der eigenen Biografie noch geknüpft werden?

Oder wer nimmt die Mühe auf sich, was geschehen ist und geschieht, in den Deutungszusammenhang einer gemeinsamen Geschichte zu bringen? Das Republiksjubiläum weckt Zweifel. Eine Erzählung fehlt, die das abgelaufene Jahrhundert zusammenfasst. Bruchstücke, vereinzelte Geschichten werden repetiert. Einige alte Politiker und einige nachgeborene Studenten haben sich im Labyrinth des Gedächtnisses verlaufen. Nach dem Dritten Reich ist ihnen der rote Faden gerissen. Sind sie harmlose Fundstücke im Ramschladen der Geschichte? Kaum. Denn sie sind, was sie erzählen.

Der Autor ist freier Journalist.

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