"... oft erheiternde Doppeldeutigkeiten"

19451960198020002020

In der "Bibliothek urbaner Kultur" ist ein Band des Autors Bodo Hell über die Schrift- und Bildzeichen der Großstadt erschienen. Hubert Chr. Ehalt hat mit Hell über Stadtschriften von Wien und anderen Metropolen sowie den Kontrast zur "Almschrift" gesprochen.

19451960198020002020

In der "Bibliothek urbaner Kultur" ist ein Band des Autors Bodo Hell über die Schrift- und Bildzeichen der Großstadt erschienen. Hubert Chr. Ehalt hat mit Hell über Stadtschriften von Wien und anderen Metropolen sowie den Kontrast zur "Almschrift" gesprochen.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Schriftsteller Bodo Hell über sein Leben zwischen Stadt und Alm, Unterschiede zwischen Wien, Berlin und Paris sowie den Zeichenaustausch im öffentlichen Raum, die Überlagerung von Zeitschichten, die den gesellschaftlichen Wandel widerspiegeln.

HUBERT CHRISTIAN EHALT: Du verbringst ein Viertel des Jahres auf der Alm -ein wichtiger und traditionsreicher Kulturraum, in dem die menschlichen Eingriffe, Bedeutungszuweisungen, Konnotierungen, Zeichensetzungen sehr sparsam sind; diejenigen, die die bäuerliche Welt nicht kennen, haben den Eindruck, mit einem quasi "unberührten Naturraum" konfrontiert zu sein. Im Gegensatz dazu ist die Stadt, wie du es benennst, ein "Gebirge der Zeichen". Ist die Zeichenhaftigkeit auf der Alm nur verdeckter? Gäbe es auch eine "Almschrift", die bis dato noch aussteht?

Bodo Hell: Selbstverständlich ist im "Natur"-Raum des Gebirges, zumal dort, wo Almwirtschaft (in all ihren Wandlungen bis hin zu Go-go-Käfigen) betrieben wird, auch die "Kultur"(nicht nur die materielle, gar die sprachliche) allgegenwärtig, wenn auch weniger schriftlich (abgesehen von Wegbeschilderung und Nationalparkbelehrungen), dafür intensiv mündlich: das betrifft die Geschichte der Orte und deren Nutzungsverhältnisse, die aktuellen Konflikte (Altjagd und Neuwilderei nicht ausgenommen); erstaunlich: die soziale Realität der zugehörigen Talschaften kommt "oben" in fast jedem Gespräch mit "Einheimischen" deutlicher zur Sprache als "unten", es dauert allerdings, bis man all diese Mitteilungen und Zeichen zu lesen und darzustellen versteht, ich darf kleinweis an der Entschlüsselung und Darstellung solcher "Almschrift" arbeiten.

EHALT: Die menschliche Kultur ist durch Zeichenhaftigkeit, das heißt auch durch Doppeldeutigkeit und Mehrdeutigkeit geprägt. "Stadtschrift" bringt die Mehrdeutigkeit zum Ausdruck: in das Bild deiner Fotografien und die Analysen, Beschreibungen und Bilder deiner Texte. Was ist für dich das Faszinierende an der Dokumentierung der Stadtschriften?

Hell: Das Erstaunlichste an der städtischen Schriftlichkeit ist die Tatsache, dass wir als Bewohner und Gäste täglich daran vorbeigehen, dass aber erst die Fokussierung (via Fotodokumentation) die Valenzen der Schriftund Wörtlichkeit zur Geltung bringt: wer sich die Schrift-Fotos anschaut, weiß meist sofort aus eigener Anschauung zusätzlich Spannendes zu berichten (gerade hat mich Buchhändler Posch auf VORHÄNGE APPRE-TUREN an einer Meidlinger Baulückenmauer samt Zeigehändchen aufmerksam gemacht); das Faszinierendste für mich liegt in der seriellen und tableauartigen Zusammenstellung der Einzelfunde samt den daraus resultierenden Sinnverschiebungen und oft erheiternden Doppeldeutigkeiten.

EHALT: Im "Mann ohne Eigenschaften" beschreibt Robert Musil die Geräuschkulisse der Stadt Wien: "Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch miteinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne dass sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, dass er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde." Verhält es sich mit dem wienerischen "Gebirge der Zeichen" ähnlich? Würde ein Mensch, nach jahrelanger Abwesenheit an einem beliebigen Punkt der Stadt mit der Stadtschrift konfrontiert, erkennen, dass er sich in Wien befindet?

Hell: Selbstredend ist Wien auch in seinen Schriftgeräuschen unverwechselbar, am vordergründigsten vielleicht in den Aufschriften der Würstelstände und Gasthäuser: A HASSE UND A ZIPFER'L, BLUNZENSTRICKER, aber auch DONAUKÄLTE, LOTTO TOTO, BLUSEN SCHOSSEN, PO-SAMENTEN, CAFE KAFKA, KUNSTTANK-STELLE OTTAKRING geben zu denken, detto treibt die Amalgamierung des "Ausländischen" die erfreulich buntesten Blüten: AFRO-TIBET IN WIEN, AMNESIA fashion, DIE PERLEN ASIENS, ZU DEN DREI SCHWEIZERN

EHALT: Was ist - verglichen z. B. mit Berlin und Paris - das Spezifische der Wiener Stadtschrift?

Hell: In den Straßen von Berlin scheinen mir die Chausseen und Alleen zu dominieren, in jenen von Alt-Paris prägen die Jalousien das Stadt- und Fassadenbild, im Ostteil Berlins waren noch lange treudeutsche 50-er-Jahr-Aufschriften zu sehen, etwa die Bezeichnung DRAHTWORT für Telegramm und Ähnliches, allerdings erscheint die dortige Graffiti-Szene schon infolge der Ausdehnungsmöglichkeit lebendiger als etwa am Donaukanal (aber auch da gibt es Trouvaillen, wie etwa eine gemalte Korpulente mit dem Slogan DICKSEIN IST POLITISCH an der Weissgerber Lände).

EHALT: Wie ist die Wiener Stadtschrift? Sachlich? Naiv? Poetisch? Witzig?

Hell: Auch "höflich" ist und war die Wiener Stadtschrift, jahrelang etwa an einem Modistensalon in der Zieglergasse das wie selbstgemalte Ladenschild: Gnädige Frau, Ihr Hut, die 3 stilisierten Langhandschuhe des HAND SCHUH PETER prangen mehrfach in der Stadt, "witzig" sowieso: etwa hinterm neuen Hauptbahnhof in Versalien samt Pfeil: EIN ECHTER WIENER GEHT HINUNTER, "einfallsreich" auch, zumal in beigestellten Bildern: in Fünfhaus sieht man z. B. zwischen den Worten FENSTER und KLINIK einen Storch mit Kapperl, der in einer Stoffschlinge nicht das Neugeborene, sondern ein wiederhergestelltes Wiener Fenster trägt.

EHALT: Das Spezifische wohl jeder Stadtschrift ist die Überlagerung von Zeitschichten. Du thematisierst und zeigst das Palimpsestartige. Wodurch ist der Wiener Palimpsest gekennzeichnet?

Hell: Auch die Wiener Palimpseste verschwinden unter anschließenden Neubauten, Lückenschluss und Überstreichung, großflächige Waschmittelwerbung (für RADION und OMO etwa) an Feuermauern sind kaum noch zu sehen, für neue (zukünftige) Palimpseste aus selbstgemachten Schablonenschriften und -bildern gibt es auch Beispiele in meinem STADTSCHRIFT-Buch, wenn die schwarzbunte Kuh muht: FUCK YOU! EAT YOUR SELF oder der rote Wortblock in Kistenschrift erscheint: WIEN MUSS WIEDER MAZZES WERDEN, manche Erklärungen habe ich meinen Bildkommentaren am Buchschluss nachgeliefert: die kryptische private Abbreviatur "oLo" in der Gumpendorferstraße entpuppt sich dann etwa als fortgeführtes Stempelspezialgeschäft Otto Lobenhofer.

EHALT: Wie schnell vollzieht sich der Zeichenaustausch in Wien?

Hell: Unterschiedlich schnell, je nach Geschäfte- und Bewohnerwechsel sowie Baugeschehen, für die Anspielungen (HACI BA-BA) in türkischen Wohn- und Marktvierteln wird man native speakers als Stadtschriftführer brauchen.

EHALT: Zeigt die Stadtschrift die Gesellschaftsgeschichte?

Hell: Ein Beispiel für viele: jahrelang gab's über einer Toreinfahrt am Kohlmarkt, der jetzt von den Haute-Couture-Marken vereinnahmt ist (zuletzt mussten Buchhandlung Berger und Freytag-Berndt weichen), die Aufschrift Frau und Mutter zu lesen, als Zugang zur Redaktion dieser ehemaligen Frauenzeitschrift aus einschlägigen Zeiten.

Die Serie "Bibliothek urbaner Kultur" erscheint in Kooperation mit den Wiener Vorlesungen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung