Ohne Sprache, Geschichte und Ausweis

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Balduin Sulzers Auftragsoper "Kaspar H.“ in einer Inszenierung von André Turnheim am Linzer Landestheater. Das Werk sorgte beim Publikum für verdienten und heftigen Applaus.

Balduin Sulzer, der profilierte oberösterreichische Komponist der Neuen Musik, Musikpädagoge und -kritiker, konnte mit dem Auftragswerk "Kaspar H.“ bereits seine dritte Oper am Linzer Landestheater, in kleiner, aber stimmiger Besetzung, in der Regie von André Turnheim, zur Aufführung bringen. Freilich, einen Melodienreigen durfte man sich nicht erwarten, doch wurde unter dem feinnervigen Dirigat von Dennis Russell Davies ausdrucksstark musiziert, wurden die Soli der herausragenden Sänger aufmerksamst begleitet.

Begnadeter Singschauspieler Schmidlechner

Das Resultat der Zusammenarbeit von Sulzer mit der Librettistin Elisabeth Vera Rathenböck, einer Linzer Autorin, Journalistin und bildenden Künstlerin, besteht nun nicht in einer Aufarbeitung des bis heute ungeklärten tragischen Schicksals des deutschen Findelkindes Kaspar Hauser. Rathenböck verlegt den spannenden Stoff vielmehr in unsere Zeit, wodurch schnell erhellt, dass es wie eh und je Menschen gibt, die sich nicht in die Gesellschaft einordnen können, wollen oder von dieser ausgegrenzt werden.

Als sich der historische Kaspar Hauser nach seiner Flucht aus dem Keller, in dem er von Leon (Hans-Günther Müller) gefangen gehalten und im Wortsinn sprachlos geblieben oder geworden war, etwas besser artikulieren konnte, gab er zu Protokoll, dass er "allein in einem dunklen Behältnis gesessen“, solange er denken könne. Die Opernfigur Kaspar H. (das "H“ könnte symbolisch für "Heute“ stehen), dargestellt vom begnadeten Singschauspieler Matthäus Schmidlechner, der mit seinem Tenor sogar virtuose Koloraturen in schwindelnder Lage meistert!), wird von den "Crooks“, einer fünfköpfigen Straßengang, aus der Clara (Elisabeth Breuer mit ihrem frischen Sopran) und Mercury (Csaba Grünfelder) gesanglich herausragen, schlafend im Keller eines alten Hauses aufgestöbert. Zunächst mit Tritten misshandelt und dann auf die Straße gezerrt, wird Kaspar eine Pistole in die Hand gedrückt, worauf sich ein Schuss löst. Kaspar wird natürlich verhaftet und von Cheryl Lichter, einer strengen Kommissarin, die ihrem schönen Sopran polizeiliche Schärfe zu geben weiß, verhört.

Der Psychologe, vulgo Seelendoktor Daumer, hat die Kommissarin beobachtet. Er entwickelt Empathie für Kaspar und will ihm helfen bzw. ihn schützen. Diese sympathisch gezeichnete Figur, der Dominik Nekel seinen dunklen, voll tönenden Bass leiht, ist namensgleich mit jenem Gymnasialprofessor Daumer, dem Kaspar Hauser einst zur Pflege und Lehre übergeben worden war. Hoffen wir, dies sei kein Zufall, sondern eine kleine Hommage an den vielfältig geplagten Kaspar H., dessen Leiden noch nicht zu Ende sind, da ihn Wissenschaftler diverser Disziplinen und unterschiedlicher Interessengruppen ihren Experimenten und Tests unterziehen, die aber keine nennenswerten Ergebnisse bringen. Kaspar H. bleibt trotz Elektroschock ohne Sprache und Geschichte, ohne Ausweis. Wird er zu irgendeinem Thema befragt, antwortet er vorzugsweise mit Primzahlen oder Zahlenreihen. Auch zeichnet er sich durch ein gleichbleibend stereotypes Lächeln aus, das sich allerdings in reine, kindliche Freude verwandeln kann. Trotzdem traut ihm die Kommissarin nicht und stuft ihn als gefährlich ein. Eine Menschenkennerin ist sie nicht, denn Kaspar ist unfähig, etwas Böses auch nur zu denken, geschweige denn zu tun.

Einen Anlass für allgemeine Heiterkeit gibt es jedoch, als Kaspar in einer mit Wasser gefüllten Badewanne wie in einer Sänfte in einer Prozession auf die Bühne getragen wird. Der Psychologe Daumer erzählt davon: "Als ich ihn in der Wanne baden ließ, fürchtete er sich, der Boden derselben möchte einbrechen und er ins Wasser hinunterstürzen, weil er sich auch unter der Wanne Wasser vorstellte.“ Aber das Bad musste sein, weil die Gang fand, dass er stinke (ein Makel, der Ausgrenzung zur Folge haben kann)! Allein, es passierte nichts.

Kaspar ist der Mörder

Dennoch "passiert“ etwas: Clara löst sich von den Crooks. Sie interessiert sich für Kaspar. Sie lehrt ihn sprechen, lehrt ihn Liebe und Gewalt. Zum ersten Mal in seinem Leben erfährt Kaspar H. Zuwendung und Liebe. Eine neue Gefahr: Leon, ein reicher und mächtiger Industrieller, lässt die Adoption Kaspars ankündigen. Er braucht einen Sohn, den er formen kann. Kaspar - leer in seinem Kopf - erscheint ihm ideal. Daumers Widerstand läuft ins Leere. Die Polizei ist bestochen worden. Eine Waffe taucht auf und macht die Runde. Diesmal wird wirklich jemand erschossen. Die Menschen im Raum sind sich einig: Kaspar ist der Mörder! Der junge Mann verschwindet, so, wie er gekommen ist, ungreifbar. "Ich, Kaspar!“

Dieser alle Kräfte fordernden Operninszenierung Turnheims, dem exzellenten Chor (Leitung: Georg Leopold), mit der Statisterie oft unterwegs auf der Bühne (Florian Parbs), dankte das Publikum mit verdientem, heftigem Applaus.

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