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UNSINN - LITERATURFÄHIG?

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Eine derartige Fragestellung hat hierzulande von vornherein entweder etwas ausgesprochen Provokantes, anerkannte Normen und germanistische Tabus Verletzendes oder wird erst gar nicht ernst genommen, das heißt, als solche schon als unsinnig abgetan. Dabei ist die Fragestellung an sich bereits ein Zugeständnis, gesetzt, um allzu ernste Leute nicht gleich zu Beginn abzuschrecken. Denn immerhin gibt es seit Jahren auch in deutscher Sprache — und in der Hauptsache auch die deutschsprachige Literatur behandelnd, ein grundlegendes wissenschaftliches Werk „Dichtung als Spiel”‘ von Alfred Liede, die Materie gleichsam für Fortgeschrittene unter dem Untertitel „Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache” behandelnd, und gibt es des weiteren ein kleines Büchlein mit dem sprechenden Titel „Blödeln für Anfänger” von Hans Weigel. Daß zwischen diesen beiden Begriffen ein zwingender Zusammenhang besteht, geht aus einem Zitat aus Weigels „Aussichtslosem Versuch der Bewältigung eines in dieser Form nicht zu bewältigenden Gegenstandes” hervor: „Blödeln ist höherer Blödsinn: Blöndsinn, welcher im Idealfall derart erhöht wird, daß er nicht mehr blöd und nur noch Sinn ist — Unsinn zum Zweck der Überwindung des Unsinns.”

Die Deutschen, meist sehr ernsthafte Leute, soweit sie der Literatur obwalten, haben einen Horror vor dem Begriff „Unsinn” in Zusammenhang mit Dichtung. Es ist, als hätte nie Jean Paul das Wort geprägt: „Ich habe Hochachtung für jeden Unsinn, weil er von und in einem Menschen ist und weil jeder Unsinn bei näherer Umleuchtung Gründe verrät, die seine Annahme entschuldigen”, und das mit der Erkenntnis endet: „Daß das nützlichste Buch eines wäre, das die Vernunftmäßigkeit alles menschlichen Unsinns darstellte.” Andere, wie zum Beispiel Hans Sedlmayer, erklärten die Unsinnspoesie für einen Aspekt des „Verlustes der Mitte”‘; und selbst Liede, der Verfasser des eingangs zitierten Werkes „Dichtung als Spiel”, kann sich nur schwer dazu entschließen, sich auf den Terminus „Unsinnspoesie” festzulegen. Dabei hat die englische Literaturgeschichte dafür einen längst eingeführten, deckenden Terminus: Nonsense- Dichtung.

Eines der klassischen Werke dieser Gattung, der Roman „Alice im Wunderland”, der später noch eine Fortsetzung in „Alice hinter den Spiegeln”‘ fand, schrieb der Mathematikprofessor und Logiker am Christ Church College in Oxford Charles Ludwidge Dodgson für ein Kind. Bei Erscheinen des ersten Bandes, 1865, war die kleine Alice Plear.sance Liddel zehn Jahre alt; als Achtzigjährige bekam sie, der Anlaß zu diesem Werk, dafür das Ehrendoktorat der Universität Cambridge. Seit kurzem gibt es von beiden Büchern eine deutsche Übersetzung, die zum erstenmal eine Vorstellung des Originals gibt und es von der platten Kinderbuchversion, die wir hierzulande davon haben, ein für allemal absetzt. In seinem Nachwort sagt Christian Enzensberger über diese Unsinnsphantasien von einer verkehrten und sich verkehrenden Welt voller ununterbrochener Verwandlungen und über den Dichter, der unter dem Pseudonym Lewis Caroll schrieb: „Noch zu seinen Lebzeiten sind die beiden Bücher zu einem ungeheuren Erfolg geworden. Sie lagen in den englischen Kinderzimmern wie in der Offiziersmesse in Kalkutta; sie wurden gelesen von Königin Victoria wie von Oscar Wilde; sie werden heute im englischen Parlament ebenso selbstverständlich zitiert wie in der Reklameserie einer Elektro- firma; und ihr Lob steht in der .Times nicht weniger zu lesen als in den Schriften der französischen Surrealisten Aragon und Breton.”

Daß die „Alice” bei uns nie in dem Maß wirksam werden konnte wie in England, liegt wohl primär an den Schwierigkeiten einer adäquaten Übersetzung, die kaum weniger problematisch zu bewerkstelligen ist wie etwa bei einem Text von James Joyce, zum anderen aber auch daran, daß Formen wie Formen sehen, die ein Kind auf eine Schiefertafel kritzelt, einfach, ursprünglich, Millionen Jahre älter und stärker als die ganze Krankheit, die man Kunst heißt.”

Das ortet genau die Stellung von „Alice im Wunderland” und „Hinter den Spiegeln”. Die Kindlichkeit, die gegen edne genormte Welt nicht aufbegehrt, weil sie dazu nicht fähig ist, sie aber ad absurdum führt, indem sie alle herkömmlichen Normen, bis zur äußersten Konsequenz gehend, durchexerziert. Gegen die Etikettierung der Welt, der Erwachsenenwelt, und gegen die Etikettierung des Lebens. Edward Lear, der Vater des Limericks, neben Lewis Carroll bedeutendste! Vertreter der Nonsense-Dichtung, der er auch den Namen gegeben hat, schreibt in einem Brief: „Der uniforme, apathische Ton, dessen sich die hohe Gesellschaft bedient, verdrießt mich gräßlich. Nach nichts sehne ich mich halb so sehr wie danach, herzhaft zu lachen und auf einem Bein durch die große Galerie zu hüpfen — aber ich wag’s nicht.” Auf seinen Fünfzeilern aber hat er es gewagt, die in England ln fast unvorstellbarem Maß populär geworden sind, für die sich aber erst in jüngster Zeit auch im Deutschen analoge Formen finden lassen, während eine direkte Übersetzung oder Transponierung bisher überhaupt noch kaum gelungen ist. Im Unsinn tarnt sich auf artifizieller Ebene die Auflehnung. Und in einer Zeit, da das aktuelle schriftstellerische Engagement etwas an Anwert verloren hat (man beginnt mit dem Bereich der Sprache selbst wieder das Auslangen zu finden), nimmt die Unsmnsdichtung zu.

Sogar eine deutsche Anthologie unter dem Titel „Die Meisengeige” ist in jüngster Zeit auf den Markt gekommen, zu der mehr als sechzig Autoren Beiträge geliefert haben; Universitätsprofessoren sind unter ihnen, Kritiker, Poeten, Sprachtheoretiker, Possenreißer, Spieler, Bluffer und Spaßvögel. Trotzdem ist die Breitenwirkung, wenn man dabei überhaupt von Breite und Wirkung sprechen kann, gering. Das mag am Verfall der Kindlichkeit liegen, dem wir uns gegenüber sehen. Vielleicht sind die Kinder heute zu klug schon geworden, und die Erwachsenen zu wenig klug mehr, um sich gerne und mit Sehnsucht einer Zeit zu erinnern, da ihr Wissen, ihre Sicherheit noch so wenig geschult und gefestigt waren, daß sie hinter den Spiegeln sich etwas vorzustellen, etwas zu suchen wagten. Deshalb scheint sich heute der echte, zeitgemäße, wenn man das Wort gebrauchen darf, Unsinn in der Dichtung mehr zu den Narren, den Clowns geflüchtet zu haben, zu Becketts Landstreichern, zu Ionescos Nashörnern und Königen; in die Absurdität, die eine härtere Spielform des Unsinns ist; auf die Bühne. Dort mögen heute die Urenkel der Alice eine Spielwelt gefunden haben, ein Parkett, auf dem sie sich in einem Gedanken- und Worttanz in jenes Leben vorwagen, gegen das sie sich ansonsten, wie ihre Ahnin, in zwar abgewandelten, doch nicht minder schaurigen, „gräßlichen”, aber dafür gesellschaftserhaltenden Zeremonien zu schützen und zu behaupten suchen.

Unsinn ist nicht nur literaturwürdig, sondern auch lebensfähig, vielleicht sogar — lebenserhaltend.

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