Popmusik, Sport und Völkermord

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Eine beklemmende Produktion zeigte das brut im Wiener Künstlerhaus: "Hate Radio“ ruft den Genozid in Ruanda des Jahres 1994 in Erinnerung.

Das Koproduktionshaus brut in Wien eröffnet die Spielzeit mit einer Annäherung an das Unbegreifliche: Es zeigt das Dokumentartheater "Hate Radio“ des International Institute of Political Murder, das sich in bedrückender Weise mit der zentralen Rolle des populärsten Radiosenders von Ruanda im ruandischen Genozid aus dem Jahre 1994 beschäftigt.

In der Mitte der Black Box im Wiener brut am Karlsplatz steht ein fast raumfüllender Glasquader. Das Publikum nimmt auf zwei Seiten Platz. Jeder Zuschauer ist mit einem kleinen Handradio ausgestattet. Zuerst erscheinen als überlebensgroße Videoprojektionen Georges Ruggiu, der als "weißer Hutu“ bekannt gewordene belgisch-italienische Radiomoderator, und ein sich als Ermittler zu erkennen gebender Mann. Bei der Befragung stellt sich heraus, dass das populäre Radio RTLM (Radio Télévision Libre des Mille Collines; der tausend Hügel - Synonym für Ruanda) in Ruanda Teil eines horriblen Systems der Gewalt war. Ruggiu muss einräumen, dass es eine direkte Verbindung zwischen den Ereignissen vom April 1994 und dem, was er und andere als Journalisten in RTLM gesagt haben, gab.

10.000 Tote pro Tag

Bei den Massakern wurde vom 6. April 1994 an innerhalb von nur hundert Tagen etwa eine Million Menschen, die meisten unter ihnen Angehörige der Tutsi-Minderheit, mit Macheten und Knüppeln regelrecht abgeschlachtet. Das sind 10.000 am Tag!

Gerahmt werden die Aussagen der Radiomoderatoren durch beklemmende Schilderungen von Szenen unfassbarer Grausamkeit durch Überlebende. Eine Zeitzeugin berichtet von einer Szene, wie sie sich ähnlich hunderttausendfach abgespielt haben muss: "Ein hübsches Mädchen ging auf den Hauptmann zu und sagte: ‚Warum nimmst du mich nicht zur Frau, anstatt mich zu töten?‘ Die Milizionäre zogen sie in eine Ecke und schnitten ihr die Brüste ab. Als sie zurückkamen, streckten sie die beiden Brüste in die Luft und fragten: ‚Sucht hier vielleicht noch eine andere Schlange einen Ehemann?‘“

Das Herz der Finsternis

Das eigentliche Stück aber beginnt, wenn die Jalousien den Blick ins Innere des schwarzen Quaders freigeben. Es zeigt das Herz der Finsternis, einen originalgetreuen Nachbau des RTLM-Studios, von dem aus 1994 der Mob angestachelt wurde. An einem Tisch mit zwei Mikrofonen sitzen zwei Männer und eine Frau. Es sind die Moderatoren, neben Ruggiu (Sébastien Foucault) die zu lebenslanger Haft verurteilte Valerie Bemeriki und der bis heute untergetauchte Kantano Habimana. Großartig dargestellt werden sie von Nancy Nkusi und Diogène "Atome“ Ntarindwa, beide selbst Überlebende des Genozids. Sie spielen ganz die coolen wie zynischen Moderatoren, die lockere Sprüche von sich geben, Worte wie "Scheißer“ oder "Nutte“ benutzen - im prüden und katholischen Ruanda damals unerhört - die Marihuana bestellen, Bier trinken und wie nebenbei eine krude Rassenkunde predigen.

Zwischen zwei angesagten Musikstücken (Gipfel des Zynismus: Nirwanas "Rape me“) rufen sie mit einer frappierenden, menschenverachtenden Gleichgültigkeit dazu auf, dass die "Kakerlaken“ von Tutsis zu vernichten seien, wobei sie sogar konkrete Angaben durchsagen, wo sich noch Tutsi verstecken.

"Beschwörung einer Atmosphäre“

Der Schweizer Milo Rau, Autor, Regisseur und Leiter des International Institute of Political Murder, das sich seit 2007 der theatralen, filmischen und künstlerischen Aufarbeitung geschichtlicher Ereignisse widmet, hat aus Bergen von Prozessakten, Interviews und Transkriptionen diese Sendung des Radio Télévision Libre des Mille Collines kondensiert. Es gehe ihm dabei, wie er sagt, nicht um dokumentarische Genauigkeit, sondern um die "Beschwörung einer Atmosphäre“.

Tatsächlich gibt das unkommentierte Reenactment "Hate Radio“ zwar keine Antwort darauf, wie Propaganda funktioniert, aber eine Ahnung davon, wie die Verrohung einer Gesellschaft vorangetrieben, wie psychische Ventile zum Bersten gebracht werden durch Worte. "Hate Radio“ ist ein wichtiger Beitrag für die Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen, dem in seiner Unmenschlichkeit und Dimension letztlich Unbegreiflichen.

IIPM - International Institute of Political Murder

http://international-institute.de

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