Psychisch Kranke als "Daseinspartner"
Vor 50 Jahren starb der Schweizer Psychiater und Analytiker Ludwig Binswanger. In seinem Sanatorium wurden dank der von ihm begründeten Daseinsanalyse viele Patienten erfolgreich behandelt - darunter auch der Kunsthistoriker Aby Warburg.
Vor 50 Jahren starb der Schweizer Psychiater und Analytiker Ludwig Binswanger. In seinem Sanatorium wurden dank der von ihm begründeten Daseinsanalyse viele Patienten erfolgreich behandelt - darunter auch der Kunsthistoriker Aby Warburg.
Der Daseinsanalytiker wird immer mit dem Kranken auf der Ebene der Gemeinsamkeit des Daseins stehen" - so lautete das Credo des Psychiaters Ludwig Binswanger. Sein Hauptanliegen bestand darin, die "Einmaligkeit, Einheit und Einzigartigkeit" des seelisch Kranken zu betonen. Deswegen lehnte er Theorien ab, in denen psychopathologische Phänomene klassifiziert wurden. In der von ihm konzipierten Daseinsanalyse suchte Binswanger eine vertrauensvolle Gesprächsbasis aufzubauen, die einen Zugang zu den seelisch Kranken ermöglichen sollte.
Die theoretischen und praktischen Voraussetzungen dafür hatte sich der am 13. April 1881 in Kreuzlingen am Bodensee geborene Ludwig Binswanger nach einem erfolgreich absolvierten Medizinstudium in Lausanne, Heidelberg und Zürich angeeignet. Seine erste Stelle erhielt Binswanger an der Zürcher Universitätsklinik "Burghölzli", die der renommierte Psychiater Eugen Bleuler leitete. 1907 promovierte er bei Bleulers Oberarzt Carl Gustav Jung. Nach dem überraschenden Tod seines Vaters übernahm Binswanger 1911 die Direktion des Sanatoriums "Bellevue", die er bis 1956 ausübte.
Einflüsse von Freud und Heidegger
Entscheidend für Binswangers Konzeption der Daseinsanalyse war die Begegnung mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud: "Ich kann ruhig sagen, dass meine ganze wissenschaftliche Entwicklung sich am Leitfaden philosophischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse abgespielt hat", notierte er. Trotz dieser Wertschätzung entfernte sich Binswanger im Verlauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit immer mehr von Freud; er wandte sich der Philosophie zu - vorerst der Phänomenologie von Edmund Husserls. Von Husserl übernahm Binswanger die Forderung "Zu den Sachen selbst!", die sich auf die Phänomene der menschlichen Lebenswelt bezog. Übertragen auf die Psychiatrie bedeutete dies die Erforschung der jeweiligen Motive des seelisch Kranken, die in das Umfeld von dessen Persönlichkeit eingebettet wurden.
Eine besondere Faszination ging in den frühen 1920er-Jahren vom Denken Martin Heideggers aus; speziell dessen 1927 publiziertes Hauptwerk "Sein und Zeit" hinterließ einen tiefen Eindruck bei Binswanger. In diesem "Jahrhundertbuch" nahm Heidegger eine Analyse derjenigen Gegebenheiten vor, die das konkrete, menschliche Leben bestimmen. Heidegger ging vom menschlichen Dasein aus, das als "In-der-Welt-Sein" von der Leiblichkeit, von Schuldgefühlen, Existenzangst und vom Wissen des Todes bestimmt wird. Binswanger übernahm Heideggers Konzeption des Daseins und entfaltete sie in seiner langjährigen Forschungsarbeit, die er als "phänomenologische Anthropologie" bezeichnete. Erst in dem 1942 publizierten, umfangreichen Hauptwerk "Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins" sprach Binswanger von der Daseinsanalyse als einer wissenschaftlichen Forschung, die auf die "Wirklichkeit des Lebens" gerichtet ist. Entschieden stellte er sich gegen die Klassifikationssucht seiner Kollegen, die den Obsessionen und Phantasmen des Wahnsinns mit bloßen Schematismen begegnen wollten. Dagegen setzte Binswanger den Begriff des "Weltentwurfs", den er von Heideggers übernommen hatte.
Das seelische Leiden mindern
Als "Weltentwurf" verstand er dasjenige Lebenskonzept eines Menschen, in dem sich sein gesamtes Denken und Handeln bewegt. Diesen "Weltentwurf", der auch vom psychisch Kranken vorgenommen wird, sollte der Daseinsanalytiker möglichst genau beobachten und kommentieren, ohne ihn jedoch als Defizit zu bewerten.
Im Laufe seiner psychopathologischen Forschung erweiterte Binswanger die Daseinsanalytik um eine "Phänomenologie der Liebe", in der das Mit-sein von Ich und Du eine zentrale Rolle spielte. Dabei berief sich Binswanger auf die "Ich-Du-Philosophie" des jüdischen Philosophen Martin Buber, der von 1878 bis 1965 lebte. Ähnlich wie Heidegger wandte sich auch Buber gegen die rationalistische Philosophie; er propagierte die Ich-Du-Beziehung, die personale Erlebniswelt mit dem konkreten Anderen.
Neben seiner intensiven wissenschaftlichen Tätigkeit engagierte sich Binswanger leidenschaftlich in seiner Privatklinik "Bellevue". Sie war speziell in den 20er-und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Institution von europäischer Bedeutung. Das Sanatorium wurde häufig von psychisch labilen Künstlern wie dem expressionistischen Maler Ernst Ludwig Kirchner, dem Schriftsteller Leonhard Frank oder dem Kunsthistoriker Aby Warburg aufgesucht. Im Vordergrund der psychiatrischen Behandlung stand das Bemühen, das Leiden des seelisch Kranken zu vermindern. In der Klinik "Bellevue" war es üblich, dass die Arztfamilie Binswanger, die Pfleger und die Patienten in einer Art von Gemeinschaft lebten und ihre Mahlzeiten gemeinsam einnahmen, sodass ein direkter Kontakt zu den Patienten gegeben war. "Der Arzt muss das Vertrauen des Kranken erwidern können" - so Binswanger - "ihm auch seinerseits das Geschenk des menschlichen Vertrauens entgegenbringen".
Wie nun Binswangers konkrete Arbeit mit seelisch Kranken verlief, lässt sich am Beispiel des Kunsthistorikers Aby Warburg illustrieren. Warburg, der zu den bedeutendsten Kunsthistorikern des 20. Jahrhunderts zählt, erlitt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs einen vollständigen psychischen Zusammenbruch. Nach jahrelangen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken kam er in das Sanatorium "Bellevue", wo Warburg seine Wahnvorstellungen, Phobien und Gewaltausbrüche exzessiv auslebte.
Der Arzt als Vaterfigur
Die Beziehung zwischen Warburg und Binswanger verlief sehr spannungsreich; Warburg sah in dem Psychiater eine überragende, dominierende Vaterfigur, die er durch maßlose Schimpftiraden bekämpfte. Binswanger ertrug beharrlich Warburgs Angriffe und versuchte - gemäß seiner daseinsanalytischen Maxime - den spezifischen Weltentwurf des Kunsthistorikers zu ergründen. Erst ein Gespräch über die Bedeutung von Mythen und Symbolen in der Kunstgeschichte führte zu einer gewissen Annäherung. Danach entstand der Plan, dass Warburg einen Vortrag über das Schlangenritual der Hopi-Indianer vor den versammelten Ärzten und den Patienten der Klinik halten sollte. Dieser Plan erfuhr eine erfolgreiche Umsetzung und wurde zum Wendepunkt von Warburgs Krankengeschichte. Ein Jahr später erfolgte die Entlassung, die "Beurlaubung zur Normalität", wie sie der Kunsthistoriker nannte. Für den Rest seines Lebens fühlte sich Warburg als "ein Wiedergeborener", der aus dem Totenreich wieder aufgetaucht war.
Beinahe 50 Jahre leitete Binswanger die Klinik "Bellevue", die er 1956 seinem Sohn Wolfgang übergab. Danach setzte Binswanger seine wissenschaftliche Arbeit, die er als Work in Progress verstand, bis zu seinem Tod am 5. Februar 1966 weiter fort - gemäß seiner Maxime, dass "der Daseinsanalytiker den Kranken nicht zu einem Objekt macht, sondern in ihm den Daseinspartner sieht".