Requiem für zwei Vergessene

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Ein tragisches Stück Nazi-Alltag, rekonstruiert und ergänzt.

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Ein Dorf in jenen Jahren, da aus Österreich die Ostmark geworden ist: stadtnahe, doch noch immer überwiegend ländlich. Es könnte das salzburgische Thalgau sein, ist es wohl auch. Aber der Name des Ortes tut letztlich nichts zur Sache: Es könnte ebensogut jeder andere sein. Auch liegt dem Autor fern, "Personen vorzuführen, anzuklagen oder gar zu verletzen". Othmar Eiterer, Sonderschulinspektor für das Bundesland Salzburg, geht es ums Exemplarische, ums "Bewahren von Erinnerungsresten" in einem ihm von Berufs wegen vertrauten Bereich, dem Umgang mit Behinderten.

Seine Position ist klar umrissen: Er zählt sich jener Minderheit zu, die Fragen stellt, und zugleich jener Mehrheit, die keine Antworten erwartet. Was bleibt, ist das eigene Nachdenken und im übrigen das ebenso eindringliche wie unaufdringliche Angebot an den Leser, es ihm gleichzutun.

1936 kommt ein Fremder ins Dorf. Akademischer Grad und Hochsprache weisen ihn als Außenseiter aus. Der abgewirtschaftete Bauernhof, den er erwirbt, soll sein Alterssitz sein. Vor allem aber Refugium für seinen Sohn: Anton P. ist "an seinen Wagen gefesselt, sein Kopf ist zu groß, seine Arme und Beine schlenkern wie bei einer Fetzenpuppe".

Abergläubische Schwangere machen einen Bogen um den Krüppel, um nicht durch seinen Anblick das Ungeborene zu gefährden. Als einige Jahre darauf die Euthanasie-Maschinerie der Nazis anläuft, tritt der Vater, wiewohl ihr erklärter Gegner, in die Partei ein. Er hofft, dem gefährdeten Sohn dadurch Schutz zu bieten. Aber die Schreckensnachrichten von den Abholkommandos, die in zunehmender Zahl die "Lebensunwerten" aus der Gemeinschaft aussondern, in "Verwahrung" nehmen, sterilisieren, liquidieren, gehen dem besorgten Vater nicht aus dem Kopf, und so schreitet er im April 1944 zur Tat und gibt dem Sohn Gift und sich selber die Kugel.

Der Gendarmeriebericht, der den Vorfall lakonisch protokolliert, ist das einzige, was bleibt. Kein Requiem: Die Kirche redet sich auf "Tod als Erlösung" und "Beisetzung in aller Stille" aus. Kein Grab: Die Friedhofsverwaltung verschanzt sich hinter dem Vorwurf der Zahlungsverweigerung und dem modernen Datenschutz.

Kann man aus solchem Nichtmaterial ein Buch machen? Othmar Eiterer kann es auf berührende, ja packende Weise. Wo das biographische Detail ungreifbar bleibt, hilft er mit der eigenen Erinnerung nach, verknüpft die Leerläufe seiner Spurensicherung mit Rückblenden in die eigene Kindheit als 1937 zur Welt gekommener Sohn einer Mutter mit rassischem "Webfehler" und eines Vaters, der für seine Zivilcourage mit Gefängnishaft zahlt, und gelangt zu einem Zeitbild von beklemmender Authentizität. Versagt das eigene Gedächtnis, greift der Autor auf die Archive zurück. Hier so ein Fundstück, bei dem der Schrecken ins Groteske umkippt, ins Lächerliche. Aus einem Verordnungsblatt des Landesschulrates im Anschlußjahr 1938: "Daß Kinder nur schüchtern und flüsternd den deutschen Gruß anwenden, ist abzustellen. Die Kinder sollen frei und frisch mit Heil Hitler grüßen und strecken dabei flott und freudig ihr Ärmchen dem Begegnenden entgegen ..."

Othmar Eiterer nennt sein "Requiem für Anton P." im Untertitel "ein Postskriptum". Das klingt beiläufig, ja resigniert. Irrtum: Wir sollten uns sehr gründlich damit auseinandersetzen und nicht nur retrospektiv, sondern auch aus dem Blickwinkel einer Gegenwart, die (der Autor versäumt nicht, darauf hinzuweisen) im Begriff ist, unter Chiffren wie "Sterbehilfe", "Tötung auf Verlangen" und "Minimaltherapie" die Euthanasie schon wieder und auf ihre Weise salonfähig zu machen.

REQUIEM FÜR ANTON P.

Ein Postskriptum. Von Othmar Eiterer Bibliothek der Provinz, Weitra 1998 172 Seiten, geb., öS 270,

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