Sagen, was sonst kein Mensch sagt

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Österreichische Erstaufführung von Jelineks "Rechnitz (Der Würgeengel)“ am Grazer Schauspielhaus: präzis inszeniert, eine packende Produktion.

Die Juden haben eine Klagemauer, wir haben eine Schweigemauer“, sagt ein Bewohner von Rechnitz in Margareta Heinrichs und Eduard Ernes Film "Totschweigen“ aus dem Jahr 1994, der die vergebliche Suchexpedition nach den Gräbern der 180 dort ermordeten Juden dokumentiert. Jelinek begegnete, in Anlehnung an die filmische Dokumentation, dieser Mauer des Schweigens in ihrem 150 Seiten starken Text "Rechnitz (Der Würgeengel)“.

In den Ritzen der Schweigemauer

Rechnitz, der Ort im Burgenland an der Grenze zu Ungarn, steht für ein Massaker, das in der Nacht zum Palmsonntag 1945 geschah. In jener Nacht feierte Gräfin Margit Batthyány, geborene Thyssen, auf ihrem Schloss ein so genanntes Gefolgschaftsfest für die dort stationierten und örtlichen Nazis. Um Mitternacht wurden an 15 Gäste Gewehre ausgegeben, um die in der Nähe verwahrten jüdischen Zwangsarbeiter zu erschießen - jene 180 entkräfteten, halb verhungerten Männer, die bereits zu schwach waren, um für den Bau des "Südostwalls“ eingesetzt zu werden, mit dem die heranrückende Rote Armee abgewehrt werden sollte. Nach dem Gemetzel ging das Fest weiter. Die Leichen wurden verscharrt - ihre Gräber nie gefunden. Das Schloss brannte nieder. Die Zeugen sind verschwunden. Seither umgibt ein Wall des Schweigens diese Nacht.

Seit 2008 steckt in den Ritzen dieser Schweigemauer nun Jelineks Theaterstück. Mit gekonnter Geschwätzigkeit, sprachlicher Redundanz, Wortwitz- und Leerlaufrhetorik führt die große österreichische Schriftstellerin an die Abgründe unseres Sprechens.

Gewissenhaft und präzise ist die zweistündige Spielfassung des bereits Jelinek-erprobten Regisseurs Michael Simon. In schwarz-weißer Dienstbotenkleidung und geschäftiger Laune betreten vier großartige Schauspieler - Nicola Gründel, Steffi Krautz, Christoph Rothenbuchner, Stefan Suske - die Bühne. Sie blicken ins Publikum, als säßen dort Bekannte, denen sie mit ihren Geschichten aus der Vergangenheit zu Leibe rücken könnten. Diese vier "Boten“, die als Gesellschaft von Eingeschlossenen Luis Buñuels Film "Der Würgeengel“ zitieren, sind nicht nur sich windende und einander widersprechende Augenzeugen, Berichterstatter, Boten des Grauens, die immer wieder betonen, dass sie ja eigentlich gar nichts gesehen hätten ("Sie wissen, wie weit man uns glauben kann!“), sondern sie sind auch die Täter, die Mörder, die ewigen Mitmacher.

Zu ihnen gesellen sich vier weitere Personen, Blechbläser, die beherzt zum großen Totentanz blasen (Musik: Bernhard Neumaier). Dann hebt sich der rote Theatervorhang, und ein Dutzend weiße Lämmer und ein schwarzes hüpfen über die Bühne. Der Lämmerauftritt dauert an, es riecht nach Burgenland. Später ist im Nebel nur mehr das Blöken der Opferlämmer zu hören, während sich bei jedem Gewehrschuss die Gebirgskulisse im Hintergrund (Bühne: Michael Simon) zitternd zu heben beginnt.

Österreich, Land der Hüpfburgen

Der erste Teil des Abends überzeugt mit Lebendbildern. Dann zieht Simon eine Metaebene ein und schlägt mit drastischen Bild- und Schauelementen zu: Ein vierbeiniges Waffeninsekt stolziert über die Bühne, übergroße Fraßobjekte schnappen nach Beute, und laszive Wildkostümträger jagen lautstark ab. Während unten eine mörderisch tolle Party steigt, sind hoch oben an der Decke des Schauspielhauses Tanzszenen zu sehen (Video: Sebastian Hirn). Der Himmel kennt keine Abgründe, da kann auch der Ort des Grauens, das Schloss Rechnitz, wieder erstehen: Vier Hüpfburgen drehen gegen Ende ihre Runden. Doch bald sacken sie wieder in sich zusammen. Österreich, Land der Hüpfburgen, hol wieder Luft!

Weitere Termine

30. März, 3., 4., 18. April

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