So wenig Gefühl wie möglich

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Die Ankunft bei der Großmutter hat nichts Heimeliges, Vertrautes. Die Kinder kommen aus der Großen Stadt und die Mutter hat rote Augen: Sie wird die Söhne bei der Fremden lassen, am Rand der Kleinen Stadt. Dort sollen sie in Sicherheit sein, "bis der Krieg aus ist".

Agota Kristof wurde mit ihrem 1986 erschienenen, vielfach ausgezeichneten Roman "Das große Heft" über zwei Zwillingsbrüder international bekannt. Schockierend ist nicht nur, was inhaltlich erzählt wird: wie die nun elternlos in der Fremde aufwachsenden Zwillinge immer schmutziger werden (in vielerlei Hinsicht), wie sie sich abzuhärten versuchen, etwa indem sie sich selbst schlagen, welche sexuellen Übergriffe sie zu erdulden haben, wie sie ihre eigene Moral kreieren -bis sie am Ende sogar über Leichen gehen werden.

Unter die Haut geht das Buch aber auch wegen der Sprache. Der Roman ist das Große Heft der Kinder, die in ihr Heft schreiben, was wahr ist: "Wir müssen beschreiben, was ist, was wir sehen, was wir hören, was wir machen". Ihre einfachen beschreibenden Sätze vermeiden jedes Gefühl und die "getreue Beschreibung der Tatsachen" wirkt daher noch brutaler.

Dorf an der Grenze

Der ungarische Regisseur János Szász versetzt Agota Kristofs geografisch nicht verorteten Roman in ihre Heimat Ungarn: Sein Film spielt in einem Dorf an der Grenze, im Zweiten Weltkrieg und bleibt doch Beispiel für andere Kriege, wann und wo auch immer sie stattfinden. Der Film beginnt -anders als der Roman -mit Familienharmonie, der aber die Anzeichen des Krieges bereits eingeschrieben sind: Der Vater in Soldatenuniform bringt den Kindern Geschenke mit.

Der Regel der beiden Buben, dass das Geschriebene so wenig Gefühl wie möglich enthalten soll, versucht der Film zu entsprechen, indem er mit nüchterner Kameraführung (Clemens Berger) oft regungslose Gesichter zeigt. Der Wir-Form des Romans entspricht er durch viele wörtlich übernommene, gemeinsam gesprochene Sätze und indem er die Buben (hervorragend gespielt von András und László Gyémánt) oft wie die Verdoppelung einer Person zeigt. Die Brutalität des Textes hat Szász nicht ausgereizt: Sexuelle Übergriffe an den Kindern werden im Film nicht gezeigt bzw. nur angedeutet. Ansonsten bleibt Szász nahe an der Handlung der Vorlage. Nach und nach kreieren die Buben ihren eigenen Wertekatalog. Warum sollte man nicht töten, wenn alle Welt tötet?

Die Schwäche des Films ist das "Bühnenbild": Die Ausstattung der Zimmer des großmütterlichen Hauses ist dick aufgetragen, jeder Tonkrug muss die Armut symbolisieren. Diese historisierende Bildüppigkeit passt nicht zur Schlichtheit der Sprache. Stark ist der Film, wo er dieser Sprache ihr Gewicht gibt, auch durch Blicke ins von Kinderhand beschriebene Heft. Er regt damit an, das Werk der 1935 geborenen Autorin wieder zu lesen, die 1956 aus Ungarn in die Schweiz geflohen ist und dort als "Analphabetin" der französischen Sprache meisterhaft Bücher wie dieses geschrieben hat.

Das große Heft D/F/A/H 2013. Regie: Jànos Szàsz. Mit László und András Gyémánt. Stadtkino. 100 Min.

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