Spürsonden im Magnetfeld Geschichte

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Im Zentrum des umfangreichen Werks von Danilo Kis steht der nie verwundene Verlust des Vaters, der nach Auschwitz deportiert wurde. Zum 80. Geburtstag des aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden, teils vergessenen Autors erschien jetzt eine Biographie.

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Im Zentrum des umfangreichen Werks von Danilo Kis steht der nie verwundene Verlust des Vaters, der nach Auschwitz deportiert wurde. Zum 80. Geburtstag des aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden, teils vergessenen Autors erschien jetzt eine Biographie.

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Zum 80. Geburtstag an einen Dichter zu erinnern, der in einem untergegangenen Land lebte, in einer fernen Sprache schrieb und bereits seit einem Vierteljahrhundert tot ist, fällt nicht leicht. Hilfreich ist es da, wenn er soeben in einer ebenso gründlichen wie anregenden Biographie des britischen Historikers Mark Thompson gewürdigt wird, die auch eine luzide Werkanalyse bietet.

Danilo Kis war ein Eroberer von literarischem Neuland. Neu war der Stoff, dem er sich -hauptsächlich aus biographischen Gründen -zuwandte. Neu war auch die Form, die er von Werk zu Werk weitertrieb und multiperspektivisch verfeinerte. Die zentrale Figur darin ist der eigene Vater, der 1944 nach Auschwitz verschleppt wurde. Der neunjährige Danilo, Sohn eines ungarischen Juden und einer serbischen Montenegrinerin, musste mitansehen, wie man den Vater abholte, der niemals wiederkehrte. Als den "Kern seiner Literatur" bezeichnete Kis einmal "dieses mysteriöse Verschwinden von Menschen". Er stellte sich damit dem Rätsel für all jene, deren Angehörige in irgendwelchen rassistisch oder ideologisch begründeten Mörderlagern umgekommen sind.

Vatersuche mit der literarischen Spürsonde

Der am 22. Februar 1935 in Subotica im damaligen Königreich Jugoslawien geborene Danilo Kis ,der gleich beide totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts hat erdulden müssen, konnte nur entlang dieser Leidensgeschichte erzählen: Seine Vatersuche mit der literarischen Spürsonde musste im Magnetfeld der Geschichte stattfinden. Zugleich galt es, dieser Geschichte durch Kunst Widerstand entgegenzusetzen. Deshalb verweigerte Kis als Romanautor das Instrumentarium des Realismus: Beeinflusst von Joyce, Proust und Borges, erfand er eine Poetik der dichterischen Beschwörung von Vergangenheit, mit dem deutlichen Freiraum der Verwandlung von realen Personen und Vorgängen durch Imagination, phantastische Erfindung, surreale Bildersprache. Erst das Geheimnis der Dichtung sollte die Wahrheit enthüllen, die hinter der unbewältigbaren Historie verborgen ist.

Wurde er bei Interviews gefragt, ob sein Vater in Auschwitz gestorben sei, antwortete Kis stets: "Nein. Er ist verschwunden." So weit ging die Traumatisierung des Knaben, die dem Schriftsteller später den Weg wies. Nahezu sein gesamtes Werk ist eine epische Vermisstenanzeige, die in immer neuen Variationen die Ahasver-Gestalt des eigenen Vaters herbei imaginiert. Tatsächlich nennt der Autor ganze Kapitel in seinem Roman "Sanduhr",Ermittlungsverfahren'.

In seinem Meisterwerk "Garten, Asche" lässt Kis die Vaterfigur aus der Vielschichtigkeit von realen und phantastischen Elementen in Gestalt des weltläufigen Bahnangestellten und clownesken Vaganten Eduard Sam wieder aufleben. Bereits mit dem gelben Judenstern gebrandmarkt, bleibt dieser Luftmensch und Schwarmgeist ahnungslos angesichts der über ihm schwebenden Bedrohung. Stattdessen gibt er sich, vazierend mit Spazierstock und Halbzylinder, ganz seinen pantheistischen Passionen hin: "Er schritt durch die Felder, in Gedanken versunken, schwang seinen Stock hoch durch die Luft, er ging wie ein Schlafwandler, immer seinem Stern nach, der sich zwischen den Sonnenblumen verlor, und erst am Feldrand fand er ihn wieder -an seinem schwarzen, speckigen Gehrock."

"Ethnographische Rarität"

Erzählt wird aus dem Erlebnisraum des heranwachsenden Sohnes, bei dem sich erst allmählich aus naturmagischen Erfahrungen und wuchernden Kindheitsfantasien die Epiphanie der Vatergestalt einstellt. So erlebt der Leser von "Garten, Asche" zugleich einen psychologischen Entwicklungsroman, der mit "Frühe Leiden" und "Sanduhr" unter dem Titel "Familienzirkus" eine Trilogie bildet. Mit dem Erzählband "Ein Grabmahl für Boris Dawidowitsch" begab sich Kis 1976 in die direkte Auseinandersetzung um die Vernichtungslager im kommunistischen Osten. An sieben Lebensläufen von zumeist sowjetrussischen Revolutionären, die als angebliche oder tatsächliche Spione, Verräter oder Doppelagenten ins stalinistische Inferno des Massenmords geraten waren, zeigte er jenes andere totalitäre System auf, das zu seinen Lebzeiten Menschen zum Verschwinden brachte. Kis lebte damals als Universitätslektor in Frankreich und war über die ideologische Verblendung der 68er-Studentenschaft empört, die eine Existenz sowjetischer Lager leugneten. Prompt wurde dem Autor auch in seiner jugoslawischen Heimat mit Unterstellungen und Verleumdungen der ästhetische Prozess gemacht.

Sich selbst hat der ungarisch-montenegrinisch-jüdische Kosmopolit Danilo Kis einmal als "ethnographische Rarität" bezeichnet. Das Jugoslawien seiner Herkunft gibt es nicht mehr, es ist, wenige Monate nach Kis ' frühem Tod am 15. Oktober 1989, im Blutrausch von "ethnischen Säuberungen" und nationalistischem Bürgerkrieg versunken. Kis sah das Verhängnis voraus, indem er festhielt: "Nationalismus ist vor allem Paranoia" eines "Individuums ohne Individualität" oder eines Volkes, das seine Identität nur in der feindseligen Überhöhung gegenüber anderen zu finden meint.

Den Toten die Würde zurückgeben

Sein letztes Werk, der 1983 veröffentlichte Erzählband "Enzyklopädie der Toten", wirkt in seinem verzweifelten Versuch, den Toten mit ihren Namen ihre Würde zurückzuerstatten, auch wie ein vorweggenommenes Fanal wider den entfesselten Massenmord in den nachfolgenden Balkankriegen. In der Titelgeschichte entdeckt der Ich-Erzähler in einer Bibliothek die Lebensgeschichten sämtlicher Verstorbenen, darunter auch die des verschollenen Vaters. Betrieben wird dieses "grandiose Denkmal der Verschiedenheit" von einer Glaubenssekte, die auf der Einzigartigkeit aller Verstorbenen besteht: "Daher ist ihnen auch jedes menschliche Wesen heilig.".

Diese Imagination einer Enzyklopädie, die nicht von ungefähr bis ins Jahr 1789 zurückreicht und in der jedes Individuum unverloren bleibt, ist nichts weniger als Kis 'Utopie von Literatur. Zugleich ist sie das Vermächtnis eines Sprachmagiers und radikalen epischen Bewahrers eines Menschenbilds, das in seinem Jahrhundert die ungeheuerlichsten Schändungen erfahren musste.

Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kis .Biographie von Mark Thompson Übers. von B. Döbert u. B. Stipetic Hanser 2015,512 S., geb., € 30,80

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