Telekratie schlägt Demokratie

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Fernsehen & Co. infantilisieren die Gesellschaft und hindern Kinder am Erwachsenwerden, sagt Bernard Stiegler.

Den "Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien" (Untertitel) beklagt Bernard Stiegler in seinem neuen Buch "Die Logik der Sorge". Während früher den Kindern praktisches und theoretisches Wissen von den Eltern vermittelt wurde, hätten heute die digitalen Medien die Rolle des Erziehers an sich gerissen und würden dadurch eine "Konfusion des Generationenverhältnisses" verursachen. Als prägnantes Beispiel für den Kampf um die "Kontrolle der Aufmerksamkeit" dient dem französischen Philosoph-Professor ein Werbeplakat des TV-Senders Canal J: Dieses zeigt Großvater, Vater und Kind mit dem Slogan, dass das Kind "mieux que ça" - besseres als das (gemeint sind Großvater und Vater) - verdient habe, nämlich eben dieses Fernsehprogramm.

Zerstreute Aufmerksamkeit

Dabei ist für Stiegler das mediale Marketing inzwischen so mächtig geworden, dass es die soziale Entwicklung unserer Kinder steuert. Laut einer Studie verbringen (amerikanische) Jugendliche rund sechseinhalb Stunden pro Tag mit Medien - wobei sie verschiedene Medien parallel konsumieren. Einige Experten sehen darin ein Training für Multi-Tasking-Arbeiten. Für Stiegler hingegen ist diese "Hyper Attention" nicht Zeichen einer Steigerung der geistigen Kräfte. Im Gegenteil, die Aufmerksamkeit werde so zerstreut, dass das Gehirn verlerne, sich in eine einzelne Sache zu vertiefen. Die Folge sei eine "beispiellose historische Regression", weil die "Technologien der Dummheit" einem kritischen Denken aktiv entgegenwirkten. Das Buch ist denn auch ein leidenschaftlicher Aufruf für eine "Schlacht der Intelligenz" um mehr "Mündigkeit im Sinne Kants". Die schulische Bildung allein reiche für die Rettung der Aufklärung nicht mehr aus. Stiegler fordert eine "Noopolitik" - das ist: eine Politik, die denkerische Freiräume schafft, weil sie weiß, dass Medien und Technik das Reflexionsvermögen einschränken, ja zerstören können.

Die Technik formt das Denken

Welche Maßnahmen konkret ergriffen werden sollten, darüber schweigt sich der Philosoph aber größtenteils aus. Für die "Psychotechniken der Aufmerksamkeitsvereinnahmung" aufmerksam zu sein, sei ein erster wichtiger Schritt. Diesen Schritt hat Stiegler mit dem Buch zweifelsohne getan. Er macht überdeutlich, wie eng Technik und Denken verflochten sind. Aufschlussreich ist auch sein Vergleich mit der Entwicklungsgeschichte der Schrift, die zuerst zum Entstehen einer Gelehrtenrepublik - einer "République des Lettres" - beiträgt, im 19. Jahrhundert in einer blühenden Verlagsindustrie mündet und "so zur Basis für die modernen, industriellen Demokratien" wird.

Einziger Wermutstropfen ist, dass das Buch stellenweise vor Fachjargon überfließt. Positiv gewendet könnte man aber auch sagen: Dieses kluge Buch verlangt dem Leser jene "Deep Attention" ab, die sich Stiegler von einem mündigen Bürger wünscht.

Die Logik der Sorge

Von Bernard Stiegler

Suhrkamp, Frankfurt 2008

190 S., kart., E 10,30

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