Trauer im Zeitraffer

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Richard Ford ist von der literarischen Langstrecke wieder zur knappen Form zurückgekehrt.

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Richard Ford ist von der literarischen Langstrecke wieder zur knappen Form zurückgekehrt.

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Richard Ford ist ein Könner der knappen Form. In ihr fühlt er sich am wohlsten. 1995 hat er mit "Unabhängigkeitstag" bewiesen, daß er auch die 600-Seiten-Langstrecke schafft. Ein Teil der Kritik fand, da sei er nun, der lang erwartete, regelmäßig immer wieder eingeforderte "große amerikanische Roman". Mit dem Buch "Abendländer" ist Ford wieder zum schmalen Format zurückgekehrt.

Das neue Prosawerk ist als Novelle ausgeschildert und bestätigt aufs neue Fords Meisterschaft im Herstellen einer überzeugenden Situation und dichten Atmosphäre, die den Leser in ihren Bann zieht und nicht mehr losläßt. Der geschiedene amerikanische Literaturdozent Charley Matthews fliegt mit seiner Freundin Helen Carmichael vor Weihnachten nach Paris, wo sich ihre Krebserkrankung plötzlich vehement wieder meldet, worauf sie sich so rücksichtsvoll wie möglich im gemeinsamen Hotelzimmer aus dem Leben empfiehlt. Ford erzählt linear, mit wenigen Abschweifungen, die schubweise die Vorgeschichte enthüllen, mit Reflexionen, die mühelos das Interesse des Lesers gewinnen und niemals trivial wirken.

Das Handlungsskelett ließe vielleicht eine kleine Allerweltsgeschichte vermuten. Das Raffinement besteht in der schockierenden Gleichgültigkeit, mit der Ford seinen Charley auf den Tod der Freundin reagieren läßt. Während eines Spazierganges, den Helen benützt, um sofort, nachdem er das Hotel verlassen hat, Abschiedsbriefe zu schreiben und Gift einzunehmen, distanziert er sich seelisch bereits von der Beziehung. Der Spaziergang fällt ausgedehnter als beabsichtigt aus. Er dient Henry dazu, sich von der unverbindlichen, aber angenehmen Liebesgeschichte innerlich zu lösen. Die plötzlich aufgetretenen Symptome sind ihm nicht entgangen. Fast hätte er unterwegs eine in Paris lebende alte Freundin angerufen.

Dabei verhält sich der ziemlich egozentrische, aber nicht besonders egoistische Charley Helen gegenüber nie rücksichtslos, sogar liebe- und im Rahmen seiner Möglichkeiten verständnisvoll. Fords erzähltechnischer Kunstgriff besteht darin, daß er den Distanzierungsprozeß zwischen Lebenden und Sterbenden und den Ablösungsprozeß, der dem Tod folgt, in einem extremen Zeitraffertempo ablaufen läßt. Die Beziehung zwischen Helen und Charley war eine sehr positive, vor allem sexuell für beide Teile erfreuliche, die Bindung aber keine besonders tiefe. Daß die Trauerarbeit Charley nicht umwirft, ist also sozusagen stinknormal. Er hat sie in zwei Stunden bewältigt, hat sie bei der Rückkehr ins Hotel schon hinter sich. Ein bißchen Traurigkeit bleibt zurück, aber Charley ergibt sich nicht ihr, sondern seinem längst fälligen Neuanfang.

Das Befremdliche an der Erzählung rührt von der Härte und Genauigkeit her, mit der Ford dies vorführt: Ohne Lügen, ohne Selbstbetrug, ohne jede Aufwallung falscher Gefühle, mit brutaler Ehrlichkeit. Also doch eine Allerweltsgeschichte, aber durch die Schärfe der Beobachtung und die Prägnanz der Sprache eben große Literatur. In Fredeke Arnim hat der in dieser Beziehung früher nicht gerade verwöhnte Autor endlich nicht nur eine gute, sondern auch eine für einen konstanten Stil sorgende deutsche Übersetzerin gefunden.

Er versteht es vortrefflich, die äußeren und die inneren Umstände in Übereinstimung zu bringen. Charleys und Helens Reise ist von der Ankunft an unter keinem guten Stern gestanden. Eine leichte Mißstimmung liegt in der Luft, sie geht von ihm aus, schließlich sind sie nicht nur zum Vergnügen aus Ohio nach Paris geflogen, sondern weil Charley da seinen Verleger treffen sollte. Er hat das Unterrichten aufgegeben, hat einen Roman über seine Ehe geschrieben, einen sehr persönlichen, in dem er - literarischer Racheakt eines Verlassenen - seine in Wirklichkeit quicklebendige Geschiedene bei einem Autounfall sterben läßt. So kommt schon zu Anfang der Tod in die Geschichte. Auch von der anderen Straßenseite grüßt er herüber. Aus den Fenstern des etwas trostlosen, Arabern gehörenden, von Indern geführten Hotels blickt man in einen Friedhof.

Wie durch ein Wunder läßt ein französischer Verlag den Roman übersetzen und auch in Frankreich erscheinen. Aber so wichtig, daß er deswegen auf eine spontan beschlossene Familienreise an den Indischen Ozean verzichten würde, ist dem Lektor das Treffen, das er selber angeregt und Charley schmackhaft gemacht hat, auch wieder nicht. Der Amerikaner ärgert sich über die Frechheit und würde am liebsten mit dem nächsten Zug abfahren, vielleicht an die Riviera. Helen aber gefällt es hier, sie spricht Französisch, ihr ganzes Leben wollte sie hierher. Paris zu Weihnachten, das sei doch romantisch. Sie bleiben.

Lautstarke amerikanische Bekannte auf dem Eiffelturm, ein nicht sehr genußvoller Restaurantbesuch sind nicht gerade das, was sich Charley wünscht. Auch wird Helen, die noch regelmäßig Zyklostatika schluckt, plötzlich zusehends schwächer. Das Verhängnis verdichtet sich. Motorräder knattern am Hotel vorbei, Schnee fällt, drüben im Friedhof macht es sich ein Obdachloser in einer Gruft bequem. Dann ist Helen tot, Charley trifft seine Übersetzerin, das Leben geht weiter. Richard Ford ist ein Stimmungsmaler von hohen Graden, "Abendländer" ein leises, trauriges, aber mit Genuß und Gewinn zu lesendes Stück Prosa.

ABENDLÄNDER Novelle von Richard Ford Übersetzung: Fredeke Arnim Berlin Verlag, Berlin 1998 154 Seiten, geb., öS 218,-

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