Traumland um 1900

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Der Leser als Voyeur an einem Schlüsselloch, hinter dem die Zeit stehengeblieben ist.

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Die Ausflügler, die den Niagarafällen den Rücken kehren, sehen aus, als hätten sie sich noch nicht ganz von einem leichten Schwindelanfall erholt. Die Cowboys bei der Mittagspause könnten auch Landarbeiter sein, keine Spur von Das-waren-noch-Männer-Romantik. Auf dem Times Square verkehrt die Bim. Das zwanzigste Jahrhundert ist noch ein Baby. Auch die Fotografie ist noch jung und aufregend, aber schon erwachsen genug, um damit ein Vermögen zu machen.

Das dachten sich auch William Henry Jackson und William Livingstone, als sie sich kurz vor der Geburt des zwanzigsten Jahrhunderts zusammentaten. Jackson war ein bekannter, auf die Landschaft des amerikanischen Westens spezialisierter Fotograf, Livingstone hatte Geld. Auch hatte er die Rechte an einem Schweizer Farblithoverfahren erworben, mit dem sich leuchtend bunte Serienbilder herstellen ließen. Sie begründeten die Detroit Publishing Company, heuerten Dutzende von Fotografen an und rüsteten einen Sonderzug aus, mit dem Jackson und seine Mitarbeiter quer durch den Kontinent tourten und Amerika verewigten. 25 Jahre lang machten die beiden mit Postkarten, Fotoalben und so weiter viel Geld. Ihre Panoramen waren bis zu 380 cm breit und zierten die Wände von Rathäusern, Bibliotheken und Vereinen. Die Schulen kauften Serien von Diapositiven, das Leporello genannte Falt-Album mit Fotos als Reiseandenken war obligat, die Postkarten der Detroit Publishing waren in allen Ferien- und Ausflugsorten zu haben - insgesamt sieben Millionen Bilder pro Jahr!

Aber im Ersten Weltkrieg wurden Arbeitskräfte und Fotomaterialien bewirtschaftet. Davon erholte sich die Firma nicht mehr. Sie kümmerte noch ein paar Jahre dahin und ging 1924 in Konkurs. Das Edison Institute in Dearborn erwarb später den Bestand an Negativen und Abzügen und überließ ihn wieder Jahre später der Colorado State Historical Society in Denver, welche die westlich des Mississippi gemachten Aufnahmen behielt und den großen Rest der Kongreßbibliothek übergab. Dort lagerten bereits die Pflichtstücke, die von 1898 bis 1909 aufgrund des Copyrightgesetzes von jeder "szenischen Ansicht" abgeliefert worden waren. Und dort schlummerte der Schatz, bis ihn Michael Lesy entdeckte.

Eine Auswahl liegt nun als Buch vor. Ein geisterhafter Blick zurück über die Jahrzehnte, wie durch einen magischen Spiegel. Dabei hat sich das Meer nicht geändert, gewiß brechen sich am Felsen, den man auf dem Umschlagfoto sieht, noch genauso hoch die Wellen und vielleicht steht, wer weiß, sogar das romantische Hotelrestaurant im Hintergrund noch. Aber die kleinen Mädchen, die ihre Kleidchen raffen und ins Wasser platschen, das Fräulein mit dem Strohhut, das sie offensichtlich beaufsichtigt - versunkene Atmosphäre, faszinierende Schemen. "Und immer noch," schreibt Michael Lesy, "versuche ich zu verstehen, warum ich mir jedesmal, wenn ich sie ansehe, vorkomme wie ein Mann, der seiner früheren Geliebten begegnet, oder wie ein Taucher, dem die Luft ausgeht."

Straßenbahnen kreuzen den Campus Martius in Detroit, die Buben, die 1906 im West Park in Pittsburgh plätschern, ahnen noch nichts von den Schlachtfeldern zweier Weltkriege, doch das Schlachtschiff Iowa im Trockendock sieht bedrohlich genug aus. Seine Mannschaft hat sich 1900 um Kommandobrücke und Geschützturm zum Supergruppenfoto arrangiert. Die Offiziere blicken steif aus ihren Einzelfotos. Irgendwo warten junge Schwarze musizierend auf das Ausflugsschiff. Wir sehen Sträflinge in Ketten, Bergwanderer im Sonntagsstaat, feine Leute, arme Leute - dieses Buch macht uns zu Voyeuren an einem Schlüsselloch, hinter dem die Zeit stehengeblieben ist.

Dreamland Amerikas. Aufbruch ins zwanzigste Jahrhundert Die Photographien von William Henry Jackson Von Michael Lesy, Verlag Schirmer/Mosel, München 1998, 240 Seiten, 183 Tafeln, Ln., öS 715,

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