Trieb vs. Kultur

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"The Sisters Brothers": Der französische Regisseur Jacques Audiard reiht sich als Neuerer des Western-Repertoires ein -und zeichnet Helden, die keine Heroen im Genre-Sinne sind.

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"The Sisters Brothers": Der französische Regisseur Jacques Audiard reiht sich als Neuerer des Western-Repertoires ein -und zeichnet Helden, die keine Heroen im Genre-Sinne sind.

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Dem angestaubten Flair des Western wurde in den letzten Jahren wieder frischer Glanz verliehen. Filme wie "Brokeback Mountain", "Slow West" oder "Hell or High Water" verließen die ausgetretenen Erzählpfade. Sie stellten nicht nur das Bild des heroischen Mannes in Frage, sondern zweifelten auch an der autokratischen Gesellschaftsidee des Genres. Dadurch erschlossen sie wieder dessen zeitkritisches Potenzial, machten es zu einem Schauplatz für die Reflexion der Gegenwart. "The Sisters Brothers" ist diesen Beispielen hinzuzurechnen, sie erweitern das Repertoire des Westernhelden. Das Bruderpaar besitzt weiblich konnotierte Wesenszüge, die traditionell, wenn man das Wort "sissy" assoziiert, geradezu phobisch aus dem heroischen Männerbild ausgegrenzt wurden. Dafür wurde Jacques Audiard 2018 in Venedig ein "Silberner Löwe" verliehen.

Eli und Charlie verdingen sich als Kopfgeldjäger. Im Auftrag eines ominösen "Commodore" reiten sie durch die Prärie, von Oregon bis an die Küsten Kaliforniens, immer auf der Fährte des Chemikers Hermann Kermit Warm, der auch von dem unabhängig von ihnen agierenden John Morris festgesetzt werden soll. Warm hat eine Flüssigkeit hergestellt, mit der sich mühelos Gold schürfen lässt. Leitet man sie in einen Bach ein, lässt sie das Metall aufleuchten. Ihre Formel also sollen sie dem Urheber entwenden und ihn danach töten.

Der Regisseur hat in seinem Western, der auf Patrick deWitts gleichnamigem Roman basiert, das Thema des Goldrausches geschickt mit der Figur des Revolverhelden kombiniert. Er zeichnet von seinen Figuren und ihrem Auftreten ein nicht nur facettenreiches, sondern auch skeptisches und ungeschöntes, zuweilen gar komisches Bild. Vor dem unverbrauchten Zauber der weiten Landschaft -gedreht wurde in Spanien und Rumänien -, hebt es sich nur umso lebendiger ab, stimmungsvoll rhythmisiert durch die Musik. So vermittelt der Regisseur plastisch, was es heißt, sich bei Wind und Wetter, bei Kälte, Regen oder Nebel im Freien aufzuhalten, dessen Gefahren, etwa einem Spinnenbiss, ausgesetzt zu sein.

Audiard charakterisiert seine vier Hauptfiguren nicht als vor sich hin brütende, wortkarge, nur schießwütige Männer. Ganz anders: Sie führen Tagebuch oder ungewöhnliche Dialoge über zeitgenössische Identitätsprobleme, reflektieren ihre Herkunft und Prägungen. Alle sind vor ihren brutalen Vätern geflohen, setzen sich mit der eigenen Aggression auseinander. Audiard führt beständig den inneren Widerstreit von Trieb und Kultur bzw. Zivilisation vor Augen, den eine neue Form von Vergesellschaftung auflösen soll. Doch die Gier des Einzelnen lässt nicht profitorientierte Gesellschaftsentwürfe, die sich auf Geist, Respekt und Kooperation berufen, immer wieder scheitern. Aber Macht, Ruhm und Ehre sind ebenso vergängliche Güter.

The Sisters Brothers F/E/RO/USA/B 2018. Regie: Jacques Audiard. Mit John C. Reilly, Joaquin Phoenix, Jake Gyllenhaal, Riz Ahmed. Polyfilm. 121 Min.

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