Schoa-Denkmal - © APA-Foto: Hans Klaus Techt

Um die Schärfung der Perspektiven

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Auch 2013 kann der Blick auf die Schoa geweitet werden - im Dienst an der Zukunft. Claude Lanzmann trägt mit dem Film "Der Letzte der Ungerechten“ wesentlich dazu bei.

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Auch 2013 kann der Blick auf die Schoa geweitet werden - im Dienst an der Zukunft. Claude Lanzmann trägt mit dem Film "Der Letzte der Ungerechten“ wesentlich dazu bei.

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Nun also 75 Jahre. Die Ereignisse des November 1938 scheinen seit 25, 30 Jahren fertig analysiert. Gleichfalls die Lehren, die aus der Geschichte zu ziehen sind. Auch die Begrifflichkeiten stammen aus jenen Tagen. "Holocaust“, die mit dem altgriechischen Wort für ein vollständig verbranntes Tieropfer umschriebene Unfassbarkeit der Gräuel des NS-Regimes, kam durch die gleichnamige TV-Serie 1978 in den allgemeinen Sprachgebrauch. Auch das treffendere Vokabel aus dem Hebräischen - Schoa, das beim Propheten Jesaja als "Unheil“ oder "Katastrophe“ vorkommt (Jes 10,3) - wurde via Film sprachlich verbreitet: 1985 veröffentlichte der französische Dokumentarfilmer Claude Lanzmann den gleichnamigen Streifen, neun Stunden lang rekonstruierte das monumentale Werk, das ohne Archivaufnahmen, sondern nur mit den Erzählungen von Protagonisten der Opfer- und der Täterperspektive auskommt, das System der Vernichtung des jüdischen Volkes.

Der Judenälteste von Theresienstadt

Was hat sich seit den letzten drei Jahrzehnten verändert, als die Judenvernichtung in den großen Zügen aufgearbeitet schien? Es ist wieder ein Film des bald 88-jährigen Lanzmann, der die Perspektive, wenn schon nicht verändert, so wenigstens schärft. Dabei scheint "Der Letzte der Ungerechten“, so der Titel des beinah vierstündigen Werks, das Ende November ins Kino kommt, eine Randerscheinung zu thematisieren und nicht den Kern der Vernichtungsmaschinerie. Als "letzter Ungerechter“ bezeichnet sich der Protagonist des Films, Benjamin Murmelstein, Wiener Rabbiner und berüchtigt als Judenältester in Theresienstadt, jenem "Vorzeige-KZ“, mit dem die NS-Schergen der Welt weismachten, dass es den Juden im Reich doch viel besser ginge, als es die schlechte Weltpresse wahrhaben wollte.

Ausgerechnet Murmelstein, der einzige Judenälteste, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte (er starb 1989)? Ihn hatte Lanzmann für seinen Film "Shoah“ 1975 interviewt, ohne das Material dann zu verwenden. Ausgerechnet das Beispiel dieses Verräters an der jüdischen Sache soll besagte Perspektivenschärfung ermöglichen?

Die verbreitete historische Halbbildung hatte seit den Auslassungen Hannah Arendts rund um den Eichmann-Prozess 1961 längst deren Verdikt verinnerlicht: Adolf Eichmanns dortige Selbstinszenierung hatte die Arendt zur These von der "Banalität des Bösen“ verleitet, die jedenfalls umstritten ist, insbesondere seit sich die Selbststilisierung Eichmanns zum kleinbürgerlichen Bürokraten als Lügengewebe entpuppte. Auch Arendts vernichtendes Urteil über die Judenräte als Handlanger der NS-Mordmaschinerie hält heutiger Sichtweise nicht mehr stand. Arendt hatte, ebenso wie der jüdische Philosoph Gerschom Scholem 1963 in der Neuen Zürcher Zeitung gemeint, Murmelstein hätte es in Theresienstadt "verdient, von den Juden gehängt zu werden.“

Diese vernichtende Qualifizierung ließ Murmelstein nicht auf sich sitzen und entkräftete die Auslassungen gleichfalls in der Neuen Zürcher Zeitung intellektuell brillant und völlig konzis. Auch spätere Forschungen über Judenräte hatten das Bild längst verändert. Der Wiener Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici zeigt etwa in seinen Forschungen über den Wiener Judenrat ("Instanzen der Ohnmacht“, 2000), dass dieser keineswegs als NS-"Kollaborateur“ gelten kann, sondern als Opfer eines perfiden totalitären Systems, das auch Juden zu "Mittätern“ zu machen suchte. In einem Sammelband über die Verfilmungen von Benjamin Murmelstein (vgl. Tipp unten) weist Rabinovici auf den Fall Wilhelm Reisz hin, eines Wiener Juden, der von der SS zur Kooperation gezwungen worden war. Reisz wurde 1945 wegen Verstrickung in die Deportationen zu 15 Jahren Kerker verurteilt, während der eigentlich entscheidungsbefugte "Judenreferent“ der Wiener Gestapo im selben Prozess mit zehn Jahren davon kam, von denen er bloß sechseinhalb absaß. Reisz erhängte sich bald nach dem Urteil aus Verzweiflung über den ungerechten Spruch.

Nur vermeintliche Gewissheiten über NS-Zeit

All das ist historisch längst bekannt und aufgearbeitet; doch es bedarf vermutlich einmal mehr eines Films, diesmal eben "Der Letzte der Ungerechten“, trotz aller vermeintlichen Gewissheiten in Bezug auf die NS-Zeit einen Perspektivenwechsel zu wagen. Es mutet wohl sonderbar an, dass Claude Lanzmann vier Jahrzehnte verstreichen ließ, bis er Benjamin Murmelsteins verdichtete Sicht der Ereignisse dem Publikum überantwortete. Aber es ist nicht zu spät - und zeigt eben, dass auch 2013 die neue Sicht und Bewertung dieser Geschichte möglich und nötig ist.

Benjamin Murmelstein ist auch in den langen Interviews, die "Der Letzte der Ungerechten“ dokumentiert, kein Sympathieträger. Dennoch bleibt seine Argumentation bestechend, nüchtern und klar: Hier steht mitnichten ein Kollaborateur oder Verräter vor einem, sondern einer der weiß, dass er sich mit Adolf Eichmann in Wien und den SS-Bonzen in Theresienstadt eingelassen hat (und einlassen musste). Und er versuchte mit diesem Wissen als Hintergrund, möglichst viele vor der Vernichtung zu bewahren - ein Pakt mit dem Teufel, keine Frage. Doch umgekehrt: Mit wem hätte ein Jude zur Zeit der Schoa sonst noch paktieren können?

Lanzmann hat in Interviews zum Film erkennen lassen, dass er der Sicht von Murmelstein viel abgewinnt. Und - man glaubt es kaum - die vier Stunden des Films sind vonnöten, um sich selber zu vergewissern, was an den Auslassungen des Benjamin Murmelstein dran ist. Es handelt sich dabei keineswegs um eine innerjüdische Kontroverse (Arendt gegen Murmelstein etc.). Sondern trotz aller Einzigartigkeit des Settings - die Schoa bleibt eine singuläre geschichtliche Erfahrung und Tatsache - zeigt sich hier, dass Beteiligte ihrem Schicksal nicht mit "weißer Weste“ entrinnen konnten.

Schrecken der Vergangenheit und Zukunft

Man könnte auf das Beispiel des Oskar Schindler verweisen, dem in Israel die Ehre eines "Gerechten unter den Völkern“ zuteil wurde - obwohl seine ursprüngliche Nähe zum NS-Gedankengut kaum bestritten wird. Benjamin Murmelstein wagte es nie, nach Israel zu reisen, er fürchtete, nicht nur die Arendt wünschte seinen Tod. Und doch tritt im "Letzten der Ungerechten“ ein Mensch, ein Jude gegenüber, der sein Menschenmöglichstes versuchte, Juden zu retten, obwohl ihn viele nur als Verräter ansehen mochten.

Die meisten Zeitzeugen sind tot. Aber "Der Letzte der Ungerechten“ hält einen Zeitzeugen, von dem man bislang nicht wusste, doch "am Leben“. Das ermöglicht eine erweiterte Perspektive, gerade für heutige Zeitgenossen. Das Schlimmste in Bezug auf die Ereignisse vor 75 Jahren wäre Selbstgerechtigkeit. Im Blick auf den November 1938 geht es dringlich auch um Selbstreflexion. Gerade die Auslassungen von Benjamin Murmelstein provozieren Fragen wie: Wo wäre man selber in jenen Tagen gestanden? Die aktuelle politische Lage in Europa, wo die Rechten erstarken, wohin man auch schaut (auch hierzulande!), lässt die Schrecken der Vergangenheit zu Schrecken der Zukunft werden. Die Zeit des ruhigen Schlafes ist vorbei.

Der Letzte der Ungerechten (Le dernier des injustes)

F/A 2013. Regie: Claude Lanzmann. Mit Benjamin Murmelstein. Filmladen. 218 Min. Ab 22.11.

"Der Letzte der Ungerechten“

Der "Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942-1975.

Hg. Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger. Campus Verlag 2011. 208 Seiten, kt., € 25,60

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