"... um zum Ton zu gelangen, DER MICH AUSMACHT"

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Was ist eine literarische Narration? Worte, Worte, Worte. Aneinandergereihte Worte, die Sätze bilden. Sätze, die Details beschreiben, die wir nicht sehen - nun aber doch, die Personen vorstellen, die es nicht gibt - nun aber doch, die Handlungen entwerfen, die unmöglich erscheinen und nun -hier in diesem Text -aber doch möglich sind. Literarische Narration ist Sprache -und doch immer mehr als nur Sprache. Mehr auch deswegen, weil sie gelesen werden will und wir im Lesen -ja, was tun wir da? Den Text weiterschreiben, sagen die einen, den Text überhaupt erst erschaffen, sagen die anderen, Leerstellen auffüllen mit unserer Fantasie, unserem Leben. Der Leser "singt mit den Augen die Noten vom Blatt und sein Geist ergänzt die literarische Melodie mit ausmalenden Klangfarben der Empathie", sagt Lydia Mischkulnig. Wir Leserinnen realisieren den Text. Und Mischkulnig arbeitet mit großer Raffinesse darauf hin, dass dieses Realisieren zu einer spannenden Angelegenheit werden kann.

Ihr jüngster Band "Die Paradiesmaschine" etwa setzt ein mit der Erzählung "Kloster Neu Burg". In dieser Erzählung, die mich auch an alte, geheimnisvolle biblische Begegnungen mit Engeln erinnert hat, begegnet dem erzählenden Ich, das radelnd unterwegs ist Richtung Tankstelle, ein eigentümliches Paar mit roten Rucksäcken. Wieso weiß der Mann vom Rasenmäher, davon dass Benzin fehlt, warum kann er prophezeien, dass im Rasenmäher nun genug Benzin sein wird? Und was bedeutet das Auftauchen des Paares Jahre später?

In der Erzählung "Die Kolumnenheilige" ärgert sich Antonella, weil sie ihre Kolumne nicht in der Zeitung findet. Ihr Lebensgefährte Luis bricht zusammen, wird er nun ein Pflegefall? Er wird von der Rettung ins Krankenhaus gefahren. Antonella entdeckt ihre Kolumne dann doch, sogar auf der ersten Seite. Sie wurde also nicht abgesetzt, sondern sogar befördert. Das beschwingt. Antonella fährt ins Krankenhaus. Sie steigt aufs Gaspedal. "Wenn ihr nur jetzt nichts in ihrer Euphorie widerfährt. Was soll schon ins Auge gehen? Wenn Luis überlebt, dann könnte sie denken, sie hat die Krise gemeistert. Ja, Antonella lenkt, ohne den Zufall zu achten, nicht wahr?"

Was für ein Schlusssatz. Werden da die Leserinnen und Leser zu Komplizen gemacht? Zu Zeugen? Aber wovon?

Lydia Mischkulnig widmet sich den Auswirkungen des Kapitalismus, unsichtbaren, umso wirksameren Abhängigkeiten, verhängnisvollen Verflechtungen mit der Ökonomie

Gegen jede Art der Entmündigung

Lydia Mischkulnig nimmt ihre Leserinnen und Leser nicht an der Hand. Das käme in der Literatur einer Entmündigung gleich und gegen jede Art der Entmündigung scheinen sich Mischkulnigs Texte zu stellen. Inhaltlich ebenso wie formal. Einladungen sind ihre Texte allerdings schon. Sie wecken Empathie -oder auch Entsetzen. Denn sympathisch sind die Figuren nicht unbedingt, wie etwa die Ich-Erzählerin Renate im 2010 erschienenen Roman "Schwestern der Angst", aus deren beengter und beengender, obsessiver Perspektive man nicht und nicht fliehen kann, so unangenehm es auch wird. Dennoch gilt, so scheint mir, Mischkulnigs Sympathie auch den nicht sympathischen Figuren.

Bei allem jedoch gönnt sich Mischkulnig eine Distanz, die nötig ist einerseits für diese so gewissenhafte Wahrnehmung (unter der Lupe der Autorin werden nicht nur Details vergrößert und derart sichtbar, sondern auch Strukturen und Muster, Systeme und Methoden), und die andererseits diese Freiheit bewirkt, die ihre Romane und Erzählungen atmen -und die auch die Leserinnen atmen lässt. Eine Freiheit, die allerdings einen brutalen Gegensatz bilden kann zu den Themen, von denen Mischkulnig erzählt.

An welche Themen denke ich, wenn ich das behaupte? Um mit der Gesellschaft im Großen und nie Ganzen zu beginnen: Mischkulnig widmet sich etwa Überwachungssystemen, den Auswirkungen des Kapitalismus, der Menschenverachtung des Neoliberalismus, unsichtbaren, umso wirksameren Abhängigkeiten, verhängnisvollen Verflechtungen mit der Ökonomie, dem Zwang zu Corporate Identity, der sogenannten Menschenführung in Firmen ... Freiheit und Frechheit der Literatur erlauben auch die Wahl der Perspektive und so kann eine Firma etwa als Ich-Erzählerin auftreten. "Zuerst bin ich eine frauenfördernde Firma und hole mir die opferbereitesten Frauen herein", heißt es in der Erzählung "Die Firma" im 2009 erschienenen Band "Macht euch keine Sorgen", "dann ist's ganz egal, ob sie Frauen sind oder Männer. Ich tausche Frauen gegen Männer aus, so oder so. [ ]Der Kampf gegen mich ist aussichtslos, im Gegensatz zu meinen Angestellten, die dafür fechten, dass ich sie nicht aufreibe oder kündige, bin ich als juristische Person unsterblich. Man kann mich zerschlagen, zersetzen, auflösen und verklagen, aber man kann mich nicht einsperren, denn ich besitze keinen Leib, berge aber etagenweise Angestellte, die einen Leib besitzen, der in meinen Diensten steht. Um mich mache ich mir keine Sorgen, ich verschwinde und formiere mich neu, wo und wann ich will."

Auch die kleineren Modelle von Gesellschaft stehen unter kritischer Beobachtung. Meisterhaft analysiert Mischkulnig erzählend Machtverhältnisse und -strukturen zwischen den Geschlechtern und unselige Rollenzuschreibungen. Mehr als einmal rückt sie dabei auch die Situation von Müttern unter Beobachtung, von alleinerziehenden ebenso wie von welchen, die, um es salopp zu sagen, chauffierende Ehemänner haben. "Mutterschaft bedeutete für sie, im Auto auf dem Rücksitz zu landen. Daneben das Kind in der Sitzschale. Rücksitz als Zwangsjacke", heißt es im 2014 erschienenen Roman "Vom Gebrauch der Wünsche" und der Rücksitz, auf den die Frau verfrachtet wird, ist wohl nicht nur jener im Auto.

Gelände ohne Geländer

Auch die kleinstmögliche Gesellschaft steht unter kritischer Beobachtung: das Ich, dessen fraglichen Entwürfe, die wir Identitäten nennen, es nur im Plural gibt, was Mischkulnig etwa in ihrem 2002 erschienenen Roman "Umarmung" thematisiert. Wörtlich genommene Metaphern, wie das in die Haut einer anderen Schlüpfen bzw. das Hautabziehen betreffen nicht nur schreibende Frauen, die literarische Figuren erfinden. Der Körper, in dem sich unsere Ichs tummeln und der sie sind: auch das ein wichtiges Thema in Mischkulnigs Texten; und über, hinter, nach all dem: der Tod.

Vergegenwärtigt man sich all die hier unvollständig und beispielhaft genannten Themen, so wird offenkundig, dass man Mischkulnig auch als politische Autorin bezeichnen könnte, auch wenn sie selbst das vielleicht aus gutem Grund nicht tut. Politisch, das klingt -nicht nur in Wahlkampfzeiten -rasch nach Partei und Ideologie, je nach Seite und Wahlverhalten nach richtiger oder falscher Ideologie. Doch das Gelände, das man mit Mischkulnigs Texten betritt, ist Gelände ohne Geländer. Lösungen sind von der Literatur keine zu erwarten, sie bietet kein Schwarz oder Weiß. "Politik hat ein Lösungsprogramm vorzuschlagen", schrieb Lydia Mischkulnig in einem in der

FURCHE veröffentlichten Essay zum Thema Literatur und Politik, "und ich habe nur mich zu erlösen von dem Einfall, der ausgeschrieben werden will".

Ihren Essay beginnt sie mit dem Verweis auf das Werkzeug Distanz: "Die literarische Erkundung von Welt braucht ein Werkzeug. Die Distanz. Sie ist das Werkzeug der Ironie, mit ihr zerre ich die Dinge ans Licht, besser gesagt, Distanz erhellt mich und horcht mich aus. (...) In Kurzgeschichten wird einmal dies, einmal das besungen, ja, wo steckt denn die politische Bedeutung drin? Ich glaube, sie steckt nicht in den Charakteren oder dem Thema, sondern in der Beschreibung von Details, in denen sich die Stimmung verbirgt, die ein politisches Klima erzeugt. Der Versuch, sichtbar zu machen, nämlich die Verhältnisse, in denen die Pround Antagonisten stecken, geht aus ihren Aktionsmöglichkeiten hervor und ihren Perspektiven, aus den Rollen, die ich als Autor zuschreibe, und damit aus meinem Vorstellungsraum als Frau, der politisch gestaltet ist und auch vorgegeben. Diese Gestaltung erlaubt es, das Material der Wirklichkeit zu hinterfragen, es durchzuarbeiten und meine Sprache zu verfertigen, und zu sagen, das bin nicht ich, das ist nur eine Stimme. Die Ironie liegt in diesem Paradox, dass ich sage, was nicht ich sage." Soweit Lydia Mischkulnig bzw. ihre Stimme.

Alles Verzichtbare streichen

Augenzwinkernd oft, einmal mit leiser, dann wieder mit deutlicher Ironie dreht und wendet Mischkulnig die Worte, die von ihr geformten Gegenstände ihres Denkens und Schreibens, die uns aber stets Gesellschaft spiegeln, manchmal glasklar, manchmal seltsam verzerrt. Spuren von literarischen Vorbildern findet man, etwa Franz Kafka oder William Shakespeare, um zwei zu nennen von vielen, und wie man einen antiken Mythos mit dem zeitgenössischen Kulturbetrieb, Regietheater und Psychoanalyse nach Freud verweben kann, zeigte sie verdichtet und ironisch in ihrem 1996 erschienenen Roman "Hollywood im Winter".

Lydia Mischkulnig, die in Graz Bühnenbild und an der Filmakademie in Wien studierte, weiß, wie man Atmosphären schafft, wie man die Bühne der Literatur ausstattet, wie man narrativ und dramatisch vorgehen muss. Sie versteht die Kunst der Komposition. Weniger ist oft mehr. "Die beste Diät für Literatur ist abzuspecken, Texte zu prüfen und alles Verzichtbare zu streichen", schrieb Mischkulnig in ihrer Korrespondenz mit Vladmir Vertlib, erschienen im von der Alten Schmiede initiierten Band "Einfache Frage: Was ist gute Literatur". Und: "Was die Massen bewegt, davor graut mir". Mit "Dienstleistungsprosa" hat sie nichts am Hut. Kunst, so Mischkulnig, schmeißt Regeln um und setzt etwas in die Welt, "das über sich selbst hinaus weist."

Einmal mit leiser, dann wieder mit deutlicher Ironie dreht und wendet sie die Worte

Idylle und Katastrophe

"Die Idylle und die Katastrophe sind bei Mischkulnig siamesische Zwillinge, die nur als Paar zu haben sind", schrieb der Literaturkritiker Anton Thuswaldner einmal. Das kann man so sehen und dabei vor allem die Themen im Blick haben. Denn oft entpuppt sich, was harmlos zu beginnen scheint, als Weg in den Abgrund. Aber vielleicht war die Idylle schon der Abgrund? Und der vorgebliche Abgrund wird zum Paradies? Wer weiß. In Mischkulnigs Texten kann man jedenfalls sogar im Toten Meer untergehen, "eins mit der Materie, kurz gesagt, die aufgelöste Moral."

Doch Gegensätze sind in der Literatur vor allem eine Sache der Sätze. Satz gegen Satz. Manch ein Satz kommt wie eine Behauptung daher. Man läuft Gefahr, ihn abzunicken. Ja, so ist das, so sehe ich das auch, wie wahr, wie wahr. Doch kaum tut man das, folgt der nächste Satz und schon ist die Behauptung, das Wissen, das Klare schräg angeschnitten, wenn nicht sogar zu Fall gebracht. Lydia Mischkulnig weiß mit diesen Möglichkeiten der Literatur bestens umzugehen. Manchmal schrill, manchmal kaum merklich bringt sie mit ihren Sätzen vermeintliche Sicherheiten ins Wanken. Aber nicht, um uns Leserinnen und Leser bloßzustellen, um uns blöd dastehen zu lassen, um uns in Abgründe zu stoßen und dort dann alleine zu lassen. Abgründe, behaupte ich, drohen uns von anderen: den Alleswissern und Erlösern, den Hetzern und Verleumdern.

Grund genug, über das Erzählen nachzudenken, und auch dazu laden Mischkulnigs Texte ein. Bei der Lektüre ihres Romans "Schwestern der Angst" etwa fragt man sich, bis wann eine Denkweise plausibel erscheint, ab wann kippt sie in reine Konstruktion? Aber bitte, was heißt "reine Konstruktion"? Konstruktion ist doch alles, was wir denken. Wird, was geschrieben und gelesen wird, nicht doch auch real? Und: Sind wir nicht alle Narrationen? Gilt es nicht genau darauf zu achten, was uns erzählt wird, aber und vor allem: wer uns erzählt? Und so landen wir wieder -unter anderem -bei diversen Corporate Identities, über deren unhinterfragten, stets abgenickten Stellenwert nachzudenken längst an der Zeit ist. Auch außerhalb der Literatur. [ ]

"Vielleicht ist Schreiben babylonisches Wurzelziehen, um die Postkartenstille meiner Erinnerungslandschaft zu durchdringen -um zum Ton zu gelangen, der mich ausmacht", schreibt Lydia Mischkulnig am Ende ihrer Erzählung "Begegnung im Gebiet" im Band "Macht euch keine Sorgen". Darin thematisiert die in Kärnten geborene Schriftstellerin wohl auch ihre eigenen babylonischen Wurzeln, ihr Aufwachsen in einem slowenisch-und deutschsprachigen Gebiet, in dem auch die italienische Sprache nah und vertraut war.

"Wer ist man schon?", heißt es dann weiter. "Wer ist man schon? Gestalt mit Sinnen. Selber ein Ort, um Einfälle dem Zufall des Hasses entgegenzusetzen, den man nicht ausbaden soll -und diese Einsicht wird die Welt auch nicht besser machen, außer mich und damit alles." [...]

'Was die Massen bewegt, davor graut mir'. Mit 'Dienstleistungsprosa' hat Mischkulnig nichts am Hut. Kunst schmeißt Regeln um, setzt etwas in die Welt,'das über sich selbst hinaus weist.'

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