Unbehagliche Anwesenheit

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„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, fragte Paul Watzlawick und schuf damit ein geflügeltes Wort. Die aktuelle Berlin Biennale geht der Frage nach: Kann die Kunst die disparaten Wirklichkeiten unserer Zeit sichtbar machen, und kann sie dazu beitragen, dass ihre Betrachter „anwesender sind in dieser Welt“? Anwesender, ein schöner Komparativ. Wären wir nicht alle gern anwesender?

Natürlich ist es ein Paradox, eine Kunstausstellung aufzusuchen, um sich selbst stärker im Realen zu spüren. Mit dieser Absicht, so meint man, sollte man sich auf eine Sommerwiese legen, Wolken sehen, Wärme spüren, Bienen hören, Erde riechen. Den Körper ins Spiel bringen und alle seine Sinne. Da die Kunst, mag sie heute auch vornehmlich audiovisuell sein, nicht mehr als zwei Sinne aktiviert, muss sie treffsicher in Hirn und Herz zielen. Die Berlin Biennale, die beinahe 50 Künstlerinnen und Künstler ins Rennen schickt, zielt oft vorbei.

Dass das Reale und das Politische Zwillinge sind, steht außer Frage. Die Berlin Biennale leidet unter dem Kurzschluss, dass Bilder politischer Manifestationen per se politische Kunst und damit welthaltig seien. Doch die vielen Laufbilder von Demonstrationen in Paris, Mexico City und Haifa, von nigerianischen Widerstandskämpfern und israelischen Soldaten bewirken vor allem eines: dass man sich ganz fern von diesen Menschen und Ereignissen fühlt.

Dann sieht man ein befremdliches Video von Anna Witt. Mit ihrer Mutter stellt die Künstlerin ihre eigene Geburt nach. Nackt kriecht sie zwischen den gespreizten Beinen der alten Frau unter einer Bettdecke hervor und plumpst zu Boden. Die schiere Körperlichkeit dieser Szene, die Intimität zwischen den Frauen, ist schwer zu ertragen. Diesem Unbehagen spürt man nach, dem Gewahrwerden der eigenen Herkunft, tief innen. Und mit diesem Unbehagen ist man auf einmal eindeutig anwesender.

* Die Autorin ist Direktorin des Lentos Kunstmuseum Linz

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