Unzeitgemäße Betrachtungen

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Morgens höre ich Ö1. Jeder Tag beginnt mit übertrieben gespannter Erwartung, die sich nie abnützt, auf die Kennung des Morgenjournals. Was gibt es Neues? Ist etwas passiert? Wie wird das Wetter? Der Wecker läutet um sechs Uhr fünfzig.

Zur Vollständigkeit des rituellen Morgenablaufs gehört eine Sendung vor den eigentlichen News: Gedanken für den Tag. Ein dreiminütiges Einsprengsel von Betrachtungen und Anregungen, die durch den Alltag des Lebens begleiten, ihn erhellen, deuten und hinterfragen sollen, um diejenigen zu bereichern, die Lebens- und Glaubenserfahrungen ihr Ohr öffnen. Jeden Tag denke ich beim Hören beglückt: Wie anachronistisch. Total daneben.

Unzeitgemäß? Aber warum?

Es sind die sehr persönlichen Beobachtungen, die hochempfindlich verzeichneten Ereignisse - oft von ungeschulten Stimmen formuliert - welche diese Gedanken so verquer erscheinen lassen im Strom der folgenden "Wortspenden" und "Sager". Minuten nach den Denkerinnen und Denkern, die manchmal Philosophen, manchmal Krankenbetreuer sind, Schriftsteller oder Lehrer, kommen die Experten des öffentlichen Diskurses zu Wort. Im Nachrichtenjournal höre ich Politiker und Fachleute mit Wortlatten, die den Eindruck erwecken, sie seien ausschließlich zu Kampagnenzwecken gezimmert. Ausholen und zuschlagen. Aus jeder Verhandlung, jedem Diskurs, wird heute eine Kampagne, Vernichtung des Gegners ist alles.

"Es ist nicht jedermanns Sache, für Wahrheit und Gerechtigkeit sich so zu interessieren, dass man auch da sie sieht, wo sie nicht ist, und wenn der beobachtende Verstand vom Herzen so bestochen wird, so darf man wohl sich sagen, dass das Herz zu edel sei für sein Jahrhundert." (Friedrich Hölderlin, 1797). So scheint's mir zu den Autoren der Gedanken für den Tag zu passen: Ihre Herzen sind edel in diesem Jahrhundert, und ihre Worte sind Fremdkörper in der Welt, von der in der folgenden halben Morgenstunde berichtet wird.

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