Verdrängtes meldet sich zu Wort

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Magische Realität jenseits der mächtigen politischen und sozialen Visionen und Projekte.

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Ostrigeca" von Marjan Tomsic: ein interessantes, ungewöhnliches Buch von einer komplexen, in gesuchten poetischen Bildern dargestellten Welt, Collage aus Träumen, Märchen, Geistergeschichten. Der Untertitel, "Eine magische Novelle aus Istrien", offenbart die Absichten des slowenischen Autors, die vielschichtige Struktur der regionalen Kultur neu zu entdecken und in einer "verzauberten" Mischung aus dem Archaischen und Anarchischen zu retten. Auch die Sprache ist eine Kombination archaischer Regionalismen mit Hochsprache, dazu stark ornamental und gelegentlich von gleichsam orakelhaftem Dunkel. Die Übersetzung gibt die mundartliche Färbung nicht immer wieder.

Der Hauptheld Boskin, eine Symbolfigur aus dem Reich der Zauberkünste, ein Waldgeist, dessen Name vom italienischen Wort bosco (Wald) abgeleitet ist, ist Sonderling, Bettler und Wanderer durch den ganzen Kosmos der istrischen Landstriche. Dies ist in der slowenischen Literatur nicht neu. Sie tritt in der Form eines alternativen ("Hunger"-)Künstlers etwa bei Ivan Cankar auf, der aber ein Bewahrer der Aufrichtigkeit und oberster Träger der Wahrheit ist. Er ist stets auch Seher, manchmal Magier. In der Novelle "Tantadruj" von Ciril Kosmac (Deutsch 1994 im Klagenfurter Wieser Verlag) ist der gleichnamige Held ein Dorfnarr, der sich mit drei Kumpanen zum Friedhof begibt, um zu sterben, was aber nur ein Schabernack ist und ihm nicht gelingt.

Tomsic garniert die literarische Wanderung durch die magische Landschaft von Istrien mit humorvollen Geschichten und Begebenheiten, verknüpft sie mit dem vitalen Geist der oft in Vergessenheit versunkenen Volkskultur, verbindet sie mit heidnischen Mythen und christlicher Folklore. Zugleich zeigt er seine Protagonisten mitten in der konkreten Wirklichkeit. Was ist das Leben? Wunder? Gnade? Versinken in Träumen, Ahnungen, Überwinden des Dinglich-Realen, Verschwinden in der Geisterseherei? Der eigenartige Protagonist ist nicht nur Wunderheiler und Seher, sondern auch tragische Existenz. Als "Mittler zwischen Himmel und Erde" wird er immer mehr Teil des Landschaftsbildes, ein Punkt in der großen Natur. Er bewegt sich außerhalb der maßgeblichen sozialen und politischen Visionen, Utopien und Projekte der Geschichte. Darum überrascht nicht, daß man diese, die ahistorische Identität des Menschen im Verbotenen, Ausgegrenzten, Verpönten suchende Literatur des 1939 geborenen Autors erst nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in Slowenien richtig entdeckte.

OSTRIGECA Eine magische Novelle aus Istrien von Marjan Tomsic Aus dem Slowenischen von Hemma Schaar und Maria Sitter, Nachwort: Johann Strutz. Verlag Hermagoras, Klagenfurt 1995 174 Seiten, geb., öS 330,

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