Im Akademietheater gewesen. Fünf Stunden lang: „Eine Familie“ von Tracy Letts. Fünf Stunden, und keine Minute zu viel. Man gerät genussvoll in den Sog des Familiendramas, lacht, leidet. Dabei passiert nicht viel anderes als im wirklichen Leben – zumindest in manchem wirklichen Leben – aber natürlich ist alles bigger than life. Ganz so kunstvoll gestaltet läuft kein Streit ab, so ereignisdicht verläuft kaum ein Tag. Trotzdem, irgendwie merkwürdig, welche Faszination es heute wieder erzeugt, echten Menschen bei der Imitation echten Lebens zuzusehen, ganz ohne Verfremdungseffekte.
In den gleichen Sog der Passion für Realitätsduplikate gerät der Protagonist in Tom McCarthys Roman „8 1D2 Millionen“, der letztes Jahr auf Deutsch erschienen ist. Nur dass dieser Mann nicht ins Theater zu gehen braucht. Er kommt unverhofft zur titelgebenden Summe in britischen Pfund und beginnt, sie in die Inszenierung von Leben und Alltag rund um seine Person zu investieren. Es ist ein bisschen so wie am Hof von Versailles, als Schäfer-Darsteller im feudalen Garten Landleben spielten. Er baut detailgetreu ein Zinshaus nach, in dem er früher gewohnt hat, lässt Statisten seine ehemaligen Mitbewohner darstellen und gibt ihnen akribische Anweisungen zum Nachspiel einst erlebter Episoden in Hof und Treppenhaus. Mehr und mehr verstrickt er sich in Doubletten-Schleifen, indem er Szenen seines Alltags nachspielen lässt, zunehmend perfektionistisch, auf die Stimmigkeit kleinster Einzelheiten versessen. Bald nimmt das gefälschte Leben den Platz des richtigen ein, aber was ist noch was? „8 1D2 Millionen“ ist der Roman der Stunde.
Vergesst virtuelle Umgebungen, Facebook und 3-D-Kino. Wer gestern ins Web 2.0 eingezogen ist, hat seinen Platz dort heute wieder gekündigt. Und geht ins Theater. Oder betrachtet, was übrigens ganz hilfreich ist, den eigenen Alltag als Performance. Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.
* Die Autorin ist Direktorin des Lentos Kunstmuseum Linz
