Von einer angemessenen Weltsicht

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Dem aus dem westafrikanischen Benin stammenden Georges Adéagbo ist eine Schau zum Thema "Kolonisation" im MAK gewidmet. Vertraute heimische Alltagsgegenstände und Materialien werden raffiniert in Beziehung zu afrikanischen Objekten gesetzt.

Ein Blick auf gängige Weltkarten offenbart die tatsächliche Weltsicht der durchschnittlichen Mitteleuropäer. Zwar ergibt jede Oberfläche einer Kugel, die in die Ebene einer flachen Landkarte ausgebreitet wird, ein verzerrtes Resultat, im Falle der Weltkarten in unseren Atlanten fällt aber ein zusätzliches Merkmal auf. Der Standpunkt der Kartografen wird nicht etwa mittig am Äquator gewählt, sondern wird auf die Gegend zwischen fünfzehntem und zwanzigstem nördlichen Breitengrad verschoben. Damit erscheinen Länder und Meere der nördlichen Hemisphäre in Relation zu denen des Südens viel größer, als sie tatsächlich sind. Was auch als unverfängliches Bekenntnis zu einem eigenständigen Standpunkt angesehen werden kann, wurde schnell zu einer Geste der Überlegenheit der europäischen Kultur gegenüber den Kulturen des Südens, über Jahrhunderte praktiziert in jener Hegemonie, die unter dem Namen "Kolonisation" viele grausame Facetten entwickelt hat.

Leidenschaftlicher Sammler

Mit der Geschichte und der Gegenwart dieser Kolonisation beschäftigt sich Georges Adéagbo in seiner Schau im Museum für Angewandte Kunst. Adéagbo, 1942 als ältestes von elf Kindern in Cotonou (Benin) geboren, zählt zu den einflussreichsten Künstlern Westafrikas. Dabei sah er für sich zunächst eine ganz andere Laufbahn vor, als er erst in Abidjan (Elfenbeinküste) und dann im französischen Rouen Rechts- und Politikwissenschaften studierte. Der Tod seines Vaters zwang ihn zur Rückkehr nach Afrika. Als Ersatz für die fehlgeschlagene akademische Karriere begann er aus Fundstücken Assemblagen in Installationsgröße zu entwickeln. Erst als ein französischer Kurator mehr oder minder zufällig auf diese Arbeiten stieß, begann im Jahr 1994 Adéagbos internationale Ausstellungstätigkeit, die ihn bald zu den Biennalen in São Paulo, Lyon und Venedig, zur Documenta 11 und in wichtige Galerien und Museen führte.

Adéagbo entpuppt sich auch für seine Intervention in den oftmals zitierten Schmelztiegel, der die Stadt Wien zu dem macht, was sie ist, als ein leidenschaftlicher Sammler und Kompilator. Seine Ausstellungen setzen die persönliche Anwesenheit des Künstlers im Vorfeld am Ort des Geschehens voraus, um die nötigen Materialien aus der unmittelbaren Umgebung aufzuspüren. Diese Ingredienzien werden dann von Adéagbo mit Elementen aus seiner Sammlung afrikanischer Objekte in Beziehung gesetzt. Eine Fülle an Zeitungsausschnitten, Schallplatten, Plakaten, Büchern, eigens bei afrikanischen Künstlern bestellten Malereien und Skulpturen und auch älteren Kultfiguren breitet sich über die Wände und den Boden aus. Viele Einzelbotschaften aus Titelleisten der betreffenden Zeitungen, den dort zumeist als eyecatcher verwendeten Fotografien, den Texten auf den Malereien, den Buch- und Liedtiteln und den von ihm handschriftlich verfassten Notizzetteln ergeben ein Riesenbild oder einen Riesentext, der sich nicht mehr vor den Betrachtern befindet, sondern durch den man sich auch körperlich hindurchbewegen muss.

Pluralität der Standpunkte

Was auf den ersten Blick wie ein einziges Sammelsurium aussieht, stellt sich alsbald als präzise angeordnete Bezogenheit zwischen den Einzelteilen heraus. Und Adéagbo gibt sich mit der Ausbreitung seiner Sammlung zur Kolonisation nicht zufrieden - die Ausläufer erreichen auch die Präsentation der anderen Sammlungen im Museum. Dem aus christlich-abendländischem Geist entstandenen Möbelstück setzt er dann die österreichische Auswanderin in die Yoruba-Kultur, die kürzlich verstorbene Susanne Wenger, genauso entgegen wie einen seiner Notizzettel. "Jesus ist für eine Mission gekommen und führte seine Mission aus, indem er sagte, dass er nicht gekommen sei, um die von Menschen geschaffenen Gesetze abzuschaffen, sondern gekommen sei, um zu zeigen und zu erklären, was die Menschen nicht an den von ihnen geschaffenen Gesetzen verstanden haben", steht da zu lesen. Adéagbo dreht die Weltsicht der europäischen Kartografie nicht einfach um, indem er etwa das tatsächlich größere Afrika dem kleineren Europa gegenüberstellt, vielmehr zeigt er, dass eine angemessene Weltsicht bedeutet, mehrere Standpunkte einzunehmen, nicht nur den eigenen, sondern auch jenen der anderen - was Europa eigentlich auch schon von Jesus hätte lernen können.

Georges Adéagbo, Die Kolonisation und die Geschichte der Kolonisierten

Museum für Angewandte Kunst

Stubenring 5, 1010 Wien

bis 13. 9., Di 10-24, Mi-So 10-18 Uhr

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