Rückblicke, Rankings, Resümees: So wird mit einem Jahr abgerechnet. Auch im Bereich der Kultur. Die tollste Ausstellung, die beste Inszenierung, der überzeugendste Roman. Ich tu mir damit schwer. So vieles, so viel Verschiedenes … Was ist geblieben?
Ich erinnere mich an das unablässig sachte Rieseln der Papierschnitzel über Peter Handkes Kärntner Jaunfeld: Immer noch Sturm. Ich erinnere mich an Roulettenburg, ich erinnere mich an Castorf. Ich erinnere mich an Sophie Rois, an die Stimme von Sophie Rois. Ich erinnere mich an die Höhlenbilder von Chauvet und wie sie Werner Herzog mit der Kamera umkreist, steinzeitliche Vorfahren von Löwen, Bären, Pferden, 30.000 Jahre alt, frisch, plastisch, lebendig. Ich erinnere mich an das Licht über dem Fluss vor der Höhle. Ich erinnere mich an eine rätselhafte junge Frau in einem Film von Nanouk Leopold, ich erinnere mich an das Unbehagen angesichts des Sex mit "hässlichen“ Männern. Ich erinnere mich an eine Hand auf einem dichtbehaarten Rücken.
Ich erinnere mich an die Wasserfälle im Schlosspark von Peterhof, ich erinnere mich an Rembrandt in der Eremitage, ich erinnere mich an Dunkel auf der Leinwand. Ich erinnere mich an rosa Licht über dem Pazifik, ich erinnere mich an Christa Wolf auf einer Bank am Ufer, ich erinnere mich, dass Christa Wolf ihren Lunch mit einer Obdachlosen teilt, ich erinnere mich an "Stadt der Engel“. Ich erinnere mich an alle Bücher von Christa Wolf, die ich je gelesen habe.
Ich erinnere mich an ein Video von Cyprien Gaillard, an Ruinen im Irak, ich erinnere mich an einen Soldaten, plump in seiner schusssicheren Weste, der eine Scherbe aufhebt: tausend Jahre Geschichte nur locker bedeckt von Sand. Ich erinnere mich an die Musik - vier Noten, endlos wiederholt: "Babylon“, David Gray. Ich erinnere mich an die Sopranstimme in Mozarts Krönungsmesse bei der Christmette.
Inspiriert v. Joe Brainard: "Ich erinnere mich“. US-Original 1970, Zürich 2011.
