Wir leben am Rand des Wunders

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Es ist Abend, und die Amseln rufen laut. Aus großer Höhe sausen sie herab und landen sicher im Gestrüpp oder auf einem winzig kleinen Ast keine zwei Meter von mir entfernt. Das Wunder geschieht vor mir. Wir leben am Rand zum Wunder. Wer sieht das? Wystan Hugh Auden hat ein Gedicht "Mondlandung" geschrieben. Doch nicht in der Landung sieht er das Wunder. Es ist anderswo zu entdecken. In der letzten Strophe heißt es:

"Unsere Apparatschiks machen weiter mit dem üblen / üblichen Geschäft, genannt Geschichte: / Wofür wir nur noch beten können: dass auch künftig Künstler, / Heilige und Meisterköche uns einen Lichtblick darin gönnen." (Übersetzung: Simon Werle)

Das klingt nicht gut, ist aber immer noch sehr realistisch. Was ist von all den Leuten im öffentlichen Leben zu halten, die unsere Welt als Spiegelkabinett verwenden, ein Mittel zur Selbstdarstellung? Und von den Funktionären, den Apparaturen, den willigen Helfern? Und wo sind die Lichtblicke?

Mir scheint, dass wir uns meist mit viel zu wenig zufrieden geben. Ein bisserl christlich ist schon genug. Ein bisserl Künstler, ein bisserl Koch.

Wo sind Köche, die anders sind? Die über das hinaus, was bereits verwöhnte Gaumen befriedigt, anderes und Besseres zu bieten haben? Wo sind Künstler, die anders sind? Deren Radikalität den schönen Schein der Mitläufer und Profiteure blass erscheinen lässt? Wo sind Christen, die anders sind? Die eine Ahnung davon vermitteln, dass wir am Rand des Wunders leben?

Es gibt sie, diese Lichtblicke. Um sie zu entdecken, braucht es den freien Blick, das wache Ohr. Das kann geübt werden. Für die Medien wäre es eine schöne Aufgabe, sich auf die Suche nach solchen Leuten zu begeben. Damit täten sie der Demokratie, die immer gefährdet ist, einen großen Dienst.

* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien

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