Seit 1925 veranstaltet die Harvard University die "Charles Eliot Norton Lectures", und unter den eingeladenen Vortragenden, fast ausnahmslos Männer, finden sich so prominente Namen wie Paul Hindemith und John Cage, Umberto Eco und Jorge Luis Borges. 2009 war Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk an der Reihe, und seine sechs Vorlesungen sind nun bei Hanser erschienen. "Der naive und der sentimentalische Romancier" ist kein Buch ausschließlich für Germanisten, sondern ein Buch für Leserinnen und Leser, die darüber nachdenken wollen, was eigentlich ihr Verstand tut, wenn sie lesen. Und warum Romanciers etwas so und nicht anders bauen -und wie sich das dann auf die Lektüre auswirkt.
Pamuk sichtet das Thema, ohne mit viel Theorie um sich zu schlagen. Und er beginnt mit dem Paradox, dass "die Kunst des Romans auf unserer Fähigkeit beruht, an einander widersprechende Sachverhalte gleichzeitig zu glauben."
Denn wie im Traum halten wir in der Literatur zwar alles für "echt", aber -und dieses Aber macht die Literatur gerade spannend -wir wissen zugleich, dass es ein Traum ist. Jean-Paul Sartre beschrieb dieses Paradox einmal so: "In jedem Augenblick kann ich aufwachen, und ich weiß es; aber ich will es nicht: Lektüre ist ein freier Traum."
Alles möglich
Die Kunst, beim Lesen gleichzeitig naiv und reflexiv zu sein, erzählt übrigens Lewis Carroll in seinem berühmten Buch "Alice im Wunderland". Am Anfang sitzt Alice neben ihrer Schwester. Diese liest, aber in einem Buch, in dem weder Bilder noch Unterhaltungen vorkommen, und deshalb langweilt sich Alice. Da läuft auf einmal ein weißes Kaninchen mit roten Augen an ihr vorbei. "Daran war", heißt es nun bei Carroll, "an und für sich nichts Besonderes: auch fand es Alice noch nicht übermäßig seltsam, daß das Kaninchen vor sich hin murmelte: 'Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät.'(Als sie später darüber nachdachte, fiel ihr ein, daß sie sich eigentlich darüber hätte wundern müssen, aber im Augenblick erschien ihr das alles ganz natürlich)."
Was Carroll hier auch erzählt, ist, wie Lesen funktioniert. Über vieles, was man liest, müsste man sich wundern. Und wenn man darüber nachdenkt, was man jederzeit tun könnte, wundert man sich auch. Aber meist will man das nicht, denn man will in dieser erzählten Welt bleiben und sie -für die Dauer der Lektüre -für wahr halten. Wie Alice, die sich im Wunderland zudem auch sehr verändern wird. "Denn seht ihr", heißt es vier Seiten weiter, "Alice waren bis jetzt schon so viele ungewöhnliche Dinge zugestoßen, daß sie langsam nur noch das wenigste für unmöglich hielt." - Willkommen im Wunderland!