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Keine Erleichterungen

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Zwar heißt es in dem Artikel „Gewissensfreiheit“ in der großen Sowjetenzyklopädie (Band 38, Moskau, 1955, S. 268), Gewissensfreiheit bestehe in dem Recht der Bürger, sich zu keiner oder zu irgendeiner beliebigen Religion zu bekennen, gleichzeitig aber heißt es, daß in der Sowjetunion die kommunistische Partei und die von 'ihr geführten gesellschaftlichen Organisationen eine großangelegte wissenschaftlich atheistische Propaganda mit dem Ziel der völligen Ausrottung der religiösen Überbleibsel durchführen. Die Entstalinisierung bedeutet für das religiöse Leben in der Sowjetunion keine Erleichterung, sondern in vielen Fällen eine wesentliche Erschwerung. In dem bekannten Artikel von L. Iljitschew in „Kommunist“ (1964, Nr. 1, S. 23—46) heißt es, „in den Jahren 1943/44 und im darauffolgenden Jahrzehnt erhielten die Kirchenmänner auf Grund der damals zugelassenen Abweichungen von der leninschen Religions- und Kirchengesetzgebung die Möglichkeit, ihre Stellung zu festigen. In den letzten Jahren wurden die leninschen Prinzipien auf dem Gebiet der Gesetzgebung hinsichtlich der religiösen Kulte wiederhergestellt, die Kirchenmänner ihrer ungesetzlichen Privilegien und Begünstigungen beraubt“.

Was ist ungesetzlich in einem Land, dessen Staatsdoktrin es auch heute noch ist, daß es „im kommunistischen Lebansstil einen Platz für religiöse Überbleibsel nicht geben kann“? (I. Kryvelev in „Kommunist“, 1961, Nr. 8, S. 65.) Aber auch das formale Recht setzt in der Sowjetunion der Religions- und Gewissensfreiheit immer engere Grenzen. Am 25. Juli 1962 beschloß der Oberste Sowjet der Russischen Unionsrepublik eine Erweiterung des Paragraphen 227 des Strafgesetzbuches, der die Gründung von Gruppen unter Strafe stellt, deren Tätigkeit unter dem Vorwand der Predigt religiöser Glaubenslehren erfolgt und mit Schädigung der Gesundheit von Bürgern verbunden ist. In einem Kommentar der Zeitschrift „Sowjet-justiz“ (22/1962) heißt es, auch langes Gebet und Fasten könnten gesundheitsschädlich sein. Eltern würden sich auch straffällig machen, wenn sie ihre Kinder zum Beitritt in eine der vom Gesetz betroffeinen religiösen Gruppen veranlassen, strafbar sei auch die Anwerbung neuer Mitglieder oder das Zurverfügungstel-len von Wohnungen für Versammlungen. In dem Kommentar wird ausdrücklich festgestellt, daß das Gesetz keinen Unterschied zwischen verbotenen Sekten und gesetzlich zugelassenen religiösen Organisationen mache.

Die Beispiele könnten beliebig erweitert werden. Sie lassen sich mit unseren Vorstellungen von Religionsfreiheit nicht vereinen. Wenn wir aber trotzdem meinen, daß die Wahrheit letztlich stärker sein wird als der Zwang und die Gewalt, daß die Freiheit des Glaubens und des Gewissens nicht auf die Dauer unterdrückt bleiben kann, so stützt sich unsere Hoffnung darauf, daß der innere Widerspruch im Verhalten des Kommunismus zur Religion zwar nicht zu einer Revision der Theorie, so doch zu einer Modifizierung der Praxis führen könne.

Die Toleranz in geistigen Fragen ist eine der Grundüberzeugungen der heutigen Menschheit, auch wenn wir täglich Beispiele von Intoleranz erleben. Diese Toleranz basiert nicht auf der Gleichgültigkeit, sondern auf der Achtung vor der inneren Gewissensentscheidung der Menschen. Wenn der Kommunismus sich nicht von der geistigen Entwicklung der Welt ausschalten will, wird er auch in seinem Bereich die Toleranz als einen wesentlichen Wert zur Kenntnis nehmen.

Die Intoleranz gerade in Welt-anschauungsfragen ist auch ein Verstoß gegen die wissenschaftliche Grundlage des Kommunismus. Nach Auffassung des dialektischen Materialismus sind religiöse Vorstellungen nur die Folgen eines bestimmten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustandes. Mit der Änderung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems müßten sie daher von selbst absterben. Jede gewaltsame oder administrative Unterdrückung der Religion setzt daher einen Zweifel an der Wirksamkeit der -gesellschaftlichen Entwicklung voraus. Der Anspruch auf Unfehlbarkeit, den die atheistische Intoleranz erhebt, ist in sich uniwissenschaftlich.

Die Verfolgung religiöser Anschauungen und die Benachteiligung von Menschen mit religiöser Überzeugung ist auch vom Standpunkt einer richtig verstandenen Staatsräson ein Fehler.

Die atheistische Intoleranz äst schließlich auch ein Verstoß gegen die Würde des Menschen. So wie die Gewissensfreiheit ein untrennbarer Bestandteil der Menschenwürde ist, so ist 'die Religionsfreiheit seihst wieder das Fundament der Gewissensfreiheit.

Man spricht heute des öfteren von Verhandlungen, die zwischen der Kirche und Staaten mit kommunistischer Doktrin geführt wurden, geführt werden oder geführt werden sollen. Daß solche Verhandlungen möglich sind, ist immerhin ein Fortschritt und ein Zeichen der Hoffnung. Solche Verhandlungen, wenn sie nicht von Haus aus nur zur Täuschung des Verhandlungspartners dienen, setzen mehr voraus als Verhandlungsvollmachten und technische Unterlagen. Sie setzen die Kenntnis der tatsächlichen Lage voraus, aber auch ein Verhandlungsklima, in dem dem einen Verhandlungspartner, das heißt, der Kirche beziehungsweise den religiösen Gemeinschaften, zumindest das Recht zugebilligt wird, atmen zu dürfen. Um diesen geistigen Atemraum geht es. Die Einräumung eines solchen Atemraumes müßte auch im kommunistischen Bereich möglich sein, ohne daß der Staat annehmen müßte, in seiner Existenzgrundlage gefährdet zu sein.

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