Zwischen Ritual, Wirklichkeit und Fiktion

Werbung
Werbung
Werbung

Bei den Festwochen werden die Mechanismen des Rechts theatral erforscht. Das Genfer Gastspiel "Please, Continue (Hamlet)" denkt Gerichtsbarkeit und Theater zusammen. Das Setting sieht folgendermaßen aus: Die Inszenierung verquickt Shakespeares "Hamlet" mit einem realen Fall aus Marseille. Statt eines Dramentextes wird den Akteuren ein Ermittlungsdossier vorgelegt, Gutachten und Protokolle beinhaltend. Auf der Bühne im Wiener Odeon ist ein Gerichtssaal eingerichtet, mit wirklichen Richtern, Anwälten, Gerichtsmedizinern und Sachverständigen. Sie sollen so agieren, wie sie es aus ihrem Alltag kennen, doch die beiden Regisseure Yan Duyvendak und Roger Bernat haben die Spielfreude österreichischer Juristen, noch dazu in der Theaterstadt Wien, unterschätzt. Die Sache läuft ziemlich aus dem Ruder. Was spannend beginnt und viele verschiedene Sichtweisen auffächert, kippt schon nach dem ersten Drittel in ein mühsames Wiederholen. Die mehrfache Schilderung des Tathergangs weist Redundanzen auf, die ja gerade das "echte Theater" zu vermeiden sucht.

Theatralität des Justizsystems

Zudem wirft die Rhetorik der Akteure nicht gerade ein gutes Licht auf die hiesige Justiz. Wobei es schwierig ist, diese Aussage auf alle Aufführungen anzuwenden, sind doch jeden Abend verschiedene Juristen angefragt. Nur die drei Profi-Darsteller sind immer dieselben: Gertrude (Susi Stach), Hamlet (Thiemo Strutzenberger) und Ophelia (Julia Jelinek) improvisieren. Sie tragen gelbe T-Shirts, die den jeweiligen Rollennamen und den Hinweis "Schauspieler" anzeigen, so dass auch wirklich jeder Zuschauer den Unterschied kapiert. Die drei geben Wiener Randschicht-Figuren, alle arbeitslos, durchschnittlich intelligent und dem Alkohol zugeneigt. Eigentlich sind sie Staffage in diesem Experiment, dessen Ausgang bis zum Schluss unklar bleibt. Denn am Ende werden acht Geschworene aus dem Publikum nominiert, die nach 30 Minuten Beratungszeit ihr Urteil bekannt geben: Bei der Wiener Premiere befanden 5:3 Hamlet des Mordes an Polonius unschuldig, 7:1 Personen verurteilten ihn der fahrlässigen Tötung mit einer Haftstrafe von zehn Monaten. So endete zumindest die erste Wiener Festwochen-Verhandlung. Die bisherigen 81 Aufführungen brachten die unterschiedlichsten Ergebnisse bis hin zum Freispruch Hamlets in Zürich samt der Zuerkennung eines Schadensersatzes von 50.000 Euro.

Die Idee birgt viel Potenzial, sowohl bezüglich der Vergleichbarkeit verschiedener europäischer Justizsysteme, als auch im Aufzeigen theatraler Formen innerhalb dieser. Duyvendak/Bernat blicken auf die Theatralität des Justizsystems, auf die verschiedenen Sichtweisen, die Versuche, "Wirklichkeit" zu behaupten, die Kostümierung der Richter und die Rituale der Verhandlung.

Am Ende geht sich der Balanceakt zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht aus, zu sehr überwiegt die redundante Realität des Gerichtsalltags.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung