Tinderei - © Collage: Rainer Messerklinger (unter Verwendung eines Bildes von iStock / FilippoBacci)

Ein digitaler Tanzabend

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Gnadenlose Auslese, wortlose Entmachtung, Stelldicheins wie am Fließband: Dating-Apps folgen einem eigenen Wertekanon. Eine Tinder-Forscherin zieht Bilanz über die Algorithmus-basierte Partnerwahl.

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Gnadenlose Auslese, wortlose Entmachtung, Stelldicheins wie am Fließband: Dating-Apps folgen einem eigenen Wertekanon. Eine Tinder-Forscherin zieht Bilanz über die Algorithmus-basierte Partnerwahl.

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„Bei Tinder geht es nur um Sex“ – ein gängiges Vorurteil, dem widersprochen werden kann. Tinder ist eine gesellschaftliche Sphäre, in der sich komplexe Dynamiken beim sozialen Akt der Partnersuche, Selbstpräsentation und sozialer Positionierung vollziehen. Ein Kontext, der von generellen Tendenzen unserer Zeit wie Beschleunigung, Rationalisierung und Selbstvermarktung charakterisiert ist. Und dieser Kontext wirkt sich auf Subjekte aus – und zwar im Querschnitt der Gesellschaft, denn getindert wird nicht nur von vielen, sondern auch in allen Milieus. Die Datenlage zeigt, dass entgegen gängigen Vorurteilen Menschen bei Tinder vor allem alles über Sex Hinausgehende suchen, nämlich etwas Besonderes: „Sex haben ist einfach, sozusagen das Minimum, ich möchte eigentlich was Tolles erleben, etwas fühlen, mich verlieben, besondere Momente schaffen.“

Menschen kommen mit persönlichen, komplexen und anspruchsvollen Erwartungen zu Tinder. Dabei zeigt sich gleichzeitig ein ständiger Bezug auf ein normatives, restriktives soziales Umfeld, bei dem die Tindernutzung schambehaftet scheint. Viele Nutzer beziehen sich direkt auf Scham, und 94 Prozent verwenden Normalisierungen: „Das macht doch heute jeder, das ist nicht mehr peinlich.“

Zwischen Hoffnung und Misstrauen

Persönliche Hoffnungen und gleichzeitige Skepsis gegenüber den Intentionen der anderen Nutzer schließen sich dabei nicht aus; auf beiden Seiten der Geschlechter. Frauen sagen zum Beispiel über Männer, dass es nur die „Desperaten und die Ficker“ gäbe, also vor allem Männer, die verzweifelt Frau und Familie suchen und die, die nur kurzfristige Intermezzi möchten. Männer tragen Skepsis gegenüber fehlender Reinheit und Promiskuität an weibliche Nutzer heran: „Ich suche eine feste Partnerschaft bei Tinder, obwohl man, so eine‘ eigentlich gar nicht als Freundin haben will.“

Die Subjekte befinden sich also in einem ambivalenten Spannungsfeld von gro­ßer Hoffnung und aktiv reduzierter Erwartung: „Eigentlich möchte ich ein Baby, ich bin deshalb bei Tinder, aber dort erfüllt sich das wohl sicher nicht.“ Eine kollektive Suche nach dem Besonderen, nach Liebe und Gefühlen bei gleichzeitiger gegenseitiger Skepsis und Misstrauen.

Aber ist der Prozess beim so genannten „local-bound-micro-dating“ wirklich anders als beim Tanzabend von früher? Bei Tinder ist das eigene Profil innerhalb von wenigen Minuten und mit minimalen Informationen, meist lediglich einem oder zwei Profilbildern erstellt. Ein zusätzlicher Profiltext ist möglich, aber nicht notwendig und bleibt oft ungelesen: „Den Text zu lesen, schaffe ich beim Swipemarathon sowieso nicht.“ Die Auswahl der Partner verläuft dann intuitiv und innerhalb von Sekunden, das heißt, es werden viele Vorschläge innerhalb kurzer Zeit abgearbeitet: like or dislike. Was sich geändert hat: Der erste Eindruck basiert auf nur einem Bild. Dieses Bild ist zum einen selbst produziert und ausgewählt und zum anderen wird es als Inszenierung des Selbst auf einem (Partner-)Markt präsentiert.

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