"Jede Präventionsmaßnahme gegen Schulabbruch rechnet sich vielfach“

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Die Bildungswissenschafterin Erna Nairz-Wirth über soziales Kapital und frühe Indikatoren für den Ausstieg aus der "Mittelschichtsinstitution“ Schule.

In den USA werden Schulabbrecher schon seit den 1970er Jahren intensiv erforscht. In Österreich ist die wissenschaftliche Forschung dazu noch sehr jung. Eine Pionierin auf dem Feld ist Erna Nairz-Wirth, Bildungswissenschafterin an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Die Furche: Sie haben Interviews mit Jugendlichen geführt, die ohne Abschluss aus dem Schulsystem ausgeschieden sind. Gibt es typische Schulabbrecher-Karrieren?

Erna Nairz-Wirth: Den typischen Schulabbrecher gibt es nicht, es sind fast immer mehrere Risikofaktoren in einer Person kumuliert. Wenn ein Kind zum Beispiel aus einem benachteiligten Herkunftsmilieu kommt, wenig Unterstützung von den Eltern erfährt und Leistungsdefizite aufweist, verstärken sich die Misserfolgserfahrungen. Kritisch wird es, wenn das Kind nicht mehr an sich glaubt, die Eltern keine guten Leistungen mehr erwarten und die Lehrer das Kind abgeschrieben haben. Schulabbruch ist immer ein dynamischer Prozess. Es passiert nie von heute auf morgen. Deshalb ist es wichtig, früh zu erkennen, ob ein Kind in eine Risikogruppe fällt, und rasch zu agieren.

Die Furche: Schon in der Volksschule?

Nairz-Wirth: Noch besser bereits im Kindergarten. Negative Erfahrungen mit Institutionen können sehr früh statt finden. Je mehr Misserfolge ein Kind erfährt, desto stärker wird das "Versagen“ inkorporiert. Ein Distanzierungsprozess beginnt. Es geht um möglichst frühe professionelle Betreuung, positive Lernanreize und ein positives Selbstwertgefühl. Das Ziel muss sein, dass ein Kind aus einer Risikogruppe beim Eintritt in die Volksschule die gleichen Chancen hat, wie ein Kind aus einem privilegierten Milieu.

Die Furche: Sie sprechen von der Schule als "Mittelschichtsinstitution“. Wie meinen Sie das?

Nairz-Wirth: Das Lehrpersonal repräsentiert eine typische Mittelschicht. Wenn ein Kind aus einem unteren Milieu kommt, gibt es eine Kluft, die es dem Kind relativ schwer macht, mithalten zu können. Das betrifft zum Beispiel die Sprache, aber auch den Habitus. Kinder mit einem starken Dialekt werden oft schlechter beurteilt, obwohl sie gleich viel wissen.

Die Furche: Wie kann man dem entgegen wirken?

Nairz-Wirth: Es geht um Professionalisierung. Die Themen "Early School Leaving“, Ungleichheit und Bildung müssen ein Kernthema in der Lehrerausbildung werden.

Die Furche: Wer trägt die Hauptschuld am Schulabbruch?

Nairz-Wirth: Schulabbruch ist ein komplexer Prozess und wird auch als solcher untersucht. Früher wurde Schulverweigerung nur auf Defizite bei Schülerinnen und Schülern zurückgeführt. Heute konzentriert man sich auf Eltern, Lehrpersonal, das soziale Umfeld. Vor allem gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die in der Schule getroffen werden können. Wo auf Frühindikatoren wie Schwänzen reagiert wird, schriftliche Verhaltensvereinbarungen formuliert werden, wo ein positives Schulklima herrscht, sinkt das Risiko. Ganz wichtig ist die Elternarbeit. Man muss Barrieren zur Schule abbauen und die Eltern dabei unterstützen, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen. Das Um und Auf ist das soziale Kapital. Das heißt eine persönliche Beziehung zu einer Lehrperson, einem Verwandten, Freund oder Paten, der sagt: "Ich glaub’ an dich und unterstütze dich.“

Die Furche: Welche Kosten verursachen Schulabbrecher denn? Oder, anders: Warum lohnt es sich, in sie zu investieren?

Nairz-Wirth: Der frühe Schulabgang ist sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft mit hohen Kosten verbunden. Die Zahlen zu volkswirtschaftlichen Kosten variieren. Aus Finnland etwa gibt es Berechnungen, dass pro Early School Leaving über eine Spanne von 40 Jahren Kosten von 1,8 Millionen Euro entstehen. Noch schwieriger quantifizieren lasen sich die individuellen Kosten, die besonders dramatisch sind. Schulabbruch geht mit eingeschränkten sozialen Kontakten einher, mit Stigmatisierungen und verringerter Kontrolle über die eigenen Lebensumstände. Dazu kommen eine höhere Krankheitsanfälligkeit und psychische Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut. Was unbestritten ist: Jede Präventionsmaßnahme auf diesem Gebiet kommt um ein Vielfaches zurück. Und je früher reagiert wird, desto günstiger ist es. Auch finanziell.

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