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100 Jahre Carl Rogers: Der Gründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie wird im Rahmen des 3. Weltkongresses für Psychotherapie in Wien gewürdigt.

Carl Rogers konnte ganz wunderbar zuhören. Noch als über Achtzigjähriger vermittelte Rogers seinen Klientinnen und Klienten das zutiefst befriedigende Gefühl, seine vollkommene Aufmerksamkeit zu haben. "Wenn ich jemanden wirklich hören kann", bekannte Rogers, "bringt es mich mit ihm in Kontakt. Es bereichert mein Leben. Dadurch, dass ich Leuten wirklich zuhörte, habe ich all das gelernt, was ich über Menschen, über die Person, über Psychotherapie und über zwischenmenschliche Beziehungen weiß."

Dieses einfühlende Hören und Verstehen, auch Empathie genannt, war für den US-amerikanischen Psychologen Carl Ransom Rogers (1902-1987) eine der drei "notwendigen und ausreichenden" Grundhaltungen, die Therapeuten besitzen und zeigen müssen, damit Klienten sich in einer Psychotherapie positiv entwickeln. Empathie bedeutet, dass der Therapeut präzise jene Gefühle und Bedeutungen spürt, die der Klient erlebt, und dass er dieses Verstehen dem Klienten mitteilt. Daneben fordert Rogers vom Therapeuten noch die Haltungen der Echtheit (Kongruenz) und der bedingungslosen Wertschätzung (Akzeptanz). Echtheit bedeutet, dass der Therapeut in Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen bleibt, dass er dem Klienten ohne Maske gegenübertritt und ihn nicht mit professionellen Phrasen abspeist. Unter Akzeptanz ist eine Haltung der Achtung und des Respekts zu verstehen, die den Klienten auch in seinen ärgerlichen, unsympathischen und destruktiven Aspekten annimmt.

Klient im Mittelpunkt

Rogers meinte, durch die Verwirklichung der drei Grundhaltungen des einfühlenden Verstehens, der Echtheit und der Akzeptanz werde ein Therapeut zu einem Geburtshelfer eines neuen, sich selbst verwirklichenden Menschen. Der Psychotherapeut ist nach Rogers, der selbst in Kalifornien geboren, auf einer Farm groß geworden ist und einige Zeit Landwirtschaft studiert hat, einem Gärtner vergleichbar, der die Bedingungen für das Wachstum der Pflanze, also Erdreich und Licht, Wärme und Wasser bereitstellt. "Wenn ich zu einem Klima verhelfen kann, das von Echtheit, Achtung und Verständnis gekennzeichnet ist, dann geschehen aufregende Dinge", stellte Rogers fest. "In solch einem Klima bewegen sich Personen fort von einem statischen Leben zu einem prozesshaften Leben, von Abhängigkeit zu Autonomie, von Voraussagbarkeit zu unvorhersagbarer Kreativität, von einem durch Abwehr bestimmten Verhalten zur Selbstannahme."

Rogers stellte die Beziehungsqualität des Therapeut-Klient-Verhältnisses in den Mittelpunkt der von ihm gegründeten klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie. Außerdem hat er seine nicht-direktive Therapie zunehmend pädagogisch und sozialpolitisch ausgeweitet: Er verstand die geforderten therapeutischen Einstellungen nun auch als allgemein menschliche Grundhaltungen, die die Beziehungen in Gruppen, Partnerschaften, Familien, Ausbildungsinstitutionen und Unternehmen entscheidend verbessern können.

Rogers kritisierte traditionelle pädagogische Annahmen und plädierte für ein offenes, flexibles Bildungssystem, das Eigeninitiative, Persönlichkeitsentfaltung und Kreativität der Studierenden fördert: "In Zukunft wird es wichtiger sein, sich gegenüber Neuem angemessen verhalten zu können, als Altes zu wissen und zu wiederholen."

Er initiierte Begegnungs- oder Encounter-Gruppen von Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe in den Vereinigten Staaten und in Südafrika, er begleitete eine Gruppe verfeindeter katholischer und protestantischer Iren, die sich im Laufe ihres Begegnungsprozesses weit füreinander öffneten. Auch auf das Verständnis des seelsorglichen Gesprächs hat Rogers maßgeblichen Einfluss ausgeübt.

Im Jahre 1984 rief Rogers das Peace Project ins Leben, dessen Ziel darin bestand, Menschen aus verschiedenen Kulturen einander näher zu bringen. Erst im November 1985 fand im burgenländischen Rust eine von Rogers geleitete internationale Konferenz zum Thema "Die zentralamerikanische Herausforderung" statt. Die Teilnehmer, darunter der stellvertretende Präsident von Costa Rica, drei ehemalige Vizepräsidenten anderer lateinamerikanischer Länder, Botschafter, Senatoren, Autoren und Wissenschafter, entwickelten allmählich gegenseitiges Vertrauen, hörten einander zu, gingen auf Argumente der anderen ein.

Rogers selbst allerdings gelang es in der eigenen Familie nicht immer, die Stimmen der anderen genau zu hören, die Bedürfnisse der anderen achtsam wahrzunehmen. Als Rogers in den siebziger Jahren verstärkt Alkohol zu trinken begann, teilte ihm seine Tochter Natalie in einem Brief mit, dass seine ständige Gewichtszunahme nicht überraschend sei, wenn er jeden Tag mehr als eine halbe Flasche Wodka konsumiere. Natalie bat ihn inständig, nach den Gründen seines Alkoholkonsums zu forschen, aber ihr Vater, der nahezu perfekte Zuhörer, hörte nicht, was sie sagte.

Einer der Gründe für Rogers Alkoholprobleme war zweifellos die Krise in der Beziehung zu seiner Ehefrau Helen. Helen gestand Carl, dass sie es satt habe, immer in seinem Schatten zu stehen und dass sie die vielen im Dienste seiner universitären Berufskarriere stehenden Ortswechsel gehasst habe. Sie lästerte, dass Carl von seinen jungen Anhängern "fast wie ein Gott" verehrt werde. Helen Rogers' Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend und vom Mai 1972 an war sie an den Rollstuhl gefesselt. Durch die Pflege seiner Frau fühlte sich Carl Rogers stark eingeschränkt, besonders deshalb, weil ihn seine Arbeit mit Encounter-Gruppen gleichzeitig in engen Kontakt mit zahlreichen lebensfrohen jungen Menschen brachte - darunter viele lebensfrohe junge Frauen. Er war zwischen seiner Verantwortung, die er für Helen empfand, seinem Wunsch nach Begegnungen mit anderen Menschen und nach intimen Beziehungen zu anderen Frauen zerrissen.

Seltsam unsozial

Die Schattenseiten des Menschen Carl Rogers sind einer breiteren Öffentlichkeit erst durch die kritische Rogers-Biographie des britischen Psychologen David Cohen aus dem Jahre 1997 bekannt geworden. Viel älter dagegen ist die Kritik an verschiedenen Aspekten von Rogers' anthropologischer und psychotherapeutischer Theorie: an seinem einseitig optimistischen Menschenbild etwa, an seiner gelegentlich seltsam unsozial erscheinenden Konzeption menschlicher Selbstverwirklichung und persönlichen Wachstums, an seiner geradezu naiven Hoffnung, vertrauensvolle Selbstkundgabe des Einzelnen werde die Institutionen von innen her sanft revolutionieren. Er war sich auch zu wenig bewusst, dass Psycho-Gurus und Massenmedien persönliche Offenheit nach dem Motto "In der Blöße liegt die Größe" häufig in eine kalkulierte "Tyrannei der Intimität" (Richard Sennett) verkehren.

Dennoch gilt: Die auf Rogers zurückgehende klientenzentrierte Psychotherapie ist trotz schon lange diskutierter Fragwürdigkeiten ihrer Theorie und erst vor kurzem entdeckter persönlicher Schattenseiten ihres Gründers eine der empirisch am besten überprüften, seriösesten und menschenfreundlichsten Angebote auf dem schillernden Psychomarkt. Zu Recht wird deshalb Carl Rogers im Rahmen des 3. Weltkongresses für Psychotherapie, der von 14. bis18. Juli in Wien stattfindet, in einem speziellen Symposium gewürdigt.

Der Autor ist ao. Universitätsprofessor für Ethik und Christliche Gesellschaftslehre in Graz. In seinem Buch "Tanz um das goldene Selbst?" (Styria, Graz 2001) setzt er sich u. a. mit Rogers' Selbstverwirklichungskonzept auseinander.

Informationen zum 3. Weltkongress

für Psychotherapie unter www.worldpsyche.org.

Infos über Psychotherapie in Österreich unter www.psyonline.at.

Therapeut und Klient

Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Von Carl Rogers. Fischer, Frankfurt/ Main 2000. 240 Seiten, kart., e 10,90.

Carl Rogers. Wegbereiter der modernen Psychotherapie

Von Norbert Groddeck. Primus, Darmstadt 2002. 213 Seiten, kart., e 19,90.

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